Der Spielfilm von Walter Salles erzählt die wahre Geschichte der Familie Paiva im Rio de Janeiro der 1970er Jahre. Im Mittelpunkt des in drei Kategorien nominierten Streifens – bester Film, bester internationaler Film sowie Fernanda Torres als beste Hauptdarstellerin – steht die von Torres gespielte Politikergattin Eunice Paiva, die sich auf die Suche nach ihrem 1971 verschwundenen Ehemann Rubens Paiva begibt. Der frühere Kongressabgeordnete ist ein Kritiker des brasilianischen Militärregimes, das durch einen Putsch 1964 an die Macht kam. Seine Frau hingegen interessiert sich nicht für Politik. Obwohl es täglich Kontrollen und Verhaftungen gibt, hält sie für die fünf gemeinsamen Kinder die Familienidylle aufrecht. Eines Nachmittags wird Rubens von Regierungsbeamten abgeholt, kurze Zeit auch Eunice. Sie wird zwölf Tage eingesperrt und verhört. Man will, dass sie Freunde und Arbeitskollegen belastet, denen linke, regimefeindliche Aktivitäten zur Last gelegt werden.
Eunice wird aus dem Gefängnis entlassen, doch Rubens bleibt verschwunden. Er ist einer jener unzähligen „desaparecidos“, die während der brasilianischen Militärdiktatur verhaftet, gefoltert und ermordet wurden. Eunice sucht vergebens nach ihm. Sie beschließt Anwältin zu werden und studiert. Als Aktivistin kämpft sie unter anderem für Menschenrechte, die Rechte Indigener und gegen das Regime. Brasilien kehrt erst 1985 zur Demokratie zurück. Erst 1996 erhält Eunice die Bestätigung, dass Rubens tot ist. Marcelo Rubens Paiva hat mit dem 2015 erschienenen Buch „Ainda estou aqui“ ein Buch über das Schicksal seiner Eltern geschrieben, das die Grundlage für den gleichnamigen Film liefert.
Walter Salles hat Regie geführt. Er gehört zu den renommierten Vertretern seines Fachs in Brasilien. Für „Central do Brasil“ (1998) erhielt er auf der Berlinale den Goldenen Bären. Die Hauptdarstellerin Fernanda Montenegro wurde damals als beste Darstellerin ausgezeichnet, diesmal ist sie in die Rolle der älteren Eunice Paiva geschlüpft. Der Film wurde – ebenso wie Montenegro – für den Oscar nominiert und erhielt einen Golden Globe. Auch der 2001 entstandene „Abril Despedaçado“ (Hinter der Sonne) war unter den Nominierten. Sein „Diarios de Motocicleta“ (2004) entstand nach den Tagebüchern des jungen Ernesto „Che“ Guevara. Weitere bekannte Filme von Salles sind „Linha de Passe“ (2008) und „On the road“ (2012) nach Jack Kerouac. Außerdem fungierte der Filmemacher als Produzent von „Cidade de Deus“ (2002), bei dem Fernando Meirelles und Kátia Lund Regie führten.
Bei „Ainda estou aqui“ (Noch bin ich hier) hat Salles, der die Familie persönlich kennt, drei große Stars des brasilianischen Films und Fernsehens vereinigt: Neben Fernanda Montenegro sind dies Selton Mello, der die Hauptrolle in den TV-Serien „O sistema“ und „O mecanismo“ spielte und in dem Kassenschlager „O Palhaço“ (2011) sowohl für Drehbuch, Regie als auch für die Hauptrolle verantwortlich zeichnet, und Fernanda Torres. Die drei Akteure, vor allem Letztgenannte, sind dem Autor dieser Zeilen noch aus „O que é isso, companheiro?“ (1997) bekannt. Der Film behandelte bereits das Thema der Militärdiktatur: Zwei Freunde schließen sich Ende der 1960er Jahre dem Widerstand gegen die Diktatur an und trainieren den bewaffneten Kampf – mit dem Ziel, den US-Botschafter zu entführen.
Auch „O que é isso, companheiro?“ basierte auf einem Buch des früheren Guerilleros Fernando Gabeira. Fernanda Torres spielte Maria, die Anführerin der Guerilla-Gruppe. Allerdings interessiert sich der Film kaum für den politischen Hintergrund der Entführung. Die enge Kollaboration der USA mit der Militärdiktatur, die aktive Rolle der CIA beim Putsch 1964 und die Tatsache, dass an US-Militärakademien lateinamerikanische Offiziere als Folterer ausgebildet wurden, bleiben vage. Die Journalistin Bettina Bremme, eine große Kennerin des lateinamerikanischen Films und Autorin des Standardwerks „Movie-mientos“ (2000), schreibt, Barreto stelle in seinem Film nicht die politische Seite des Privaten, sondern die private Seite des Politischen in den Vordergrund.
Die bleierne Zeit
Die bleierne Zeit der Diktatur (1964-1985) wirft bis heute lange Schatten, weil sie im Vergleich zu Argentinien nicht annähernd aufgearbeitet ist. Etwa zehntausend Regimegegner mussten damals ins Exil fliehen. Der Übergang zur Demokratie verlief langsam. Die Militärs sicherten sich mit einem Gesetz 1979 Amnestie zu. Die Folter hingegen wurde vertuscht. Obwohl 1990 erstmals Staatsarchive auf Druck ehemaliger Gefangener und der Familien von Verschwundenen geöffnet wurden, widmete sich der brasilianische Staat erst ab 1995 unter dem damaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso in drei Kommissionen der Aufarbeitung der Militärdiktatur und anerkannte den Tod von 136 Menschen während der Diktatur. 1997 wurde ein Anti-Folter-Gesetz verabschiedet, es gab aber keine Verurteilungen aufgrund der Folter in der Zeit der Diktatur. An der „Comissão Especial sobre Mortos e Desaparecidos Políticos“ etwa wurde kritisiert, dass die Beweislast bei der Zivilgesellschaft lag und die gezahlten Entschädigungsleistungen gestaffelt nach akademischem Grad der Opfer berechnet wurden. Im Abschlussbericht der Kommission wurde die Arbeit des zivilgesellschaftlichen Projekts „Brasilien: Nunca Mais!“ gewürdigt. Letzteres erwirkte mit der Veröffentlichung von Täterlisten im Jahr 2001 die Untersuchung von 23 Fällen von Folter im brasilianischen Militär durch den UN-Ausschuss für Folter. Im Jahr 2002 wurde die Amnestiekommission des brasilianischen Justizministeriums eingesetzt. Sie sollte den Opfern Reparationen anbieten, die von Folter, Inhaftierungen, Entführungen, Vertreibungen und Entlassungen betroffen waren. Laut Regierung bekamen rund 30.000 Brasilianer finanzielle Wiedergutmachung.
Der heutige Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva, bereits von 2002 bis 2010 Staatschef, brachte 2010 erstmals einen Gesetzesvorschlag zur Errichtung einer Wahrheitskommission ein. Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff (2011-2016), während der Diktatur selbst inhaftiert und Opfer von Folter, errichtete 2012 die nationale Wahrheitskommission, die Comissão Nacional da Verdade, mit dem Ziel, das Geschehene zwar historisch, aber nicht juristisch aufzuarbeiten. Der Bericht der Kommission beinhaltete erstmals Zeugenaussagen und nannte die Namen von rund 377 Staatsbeamten, die für die Planung und Implementierung repressiver Strukturen verantwortlich waren. Dabei wird von systematischen Menschenrechtsverletzungen gesprochen und die strafrechtliche Verfolgung der Täter gefordert. Die juristische Aufarbeitung ist jedoch vom brasilianischen Staat bis heute nicht umgesetzt worden.
Der von 2018 bis 2022 regierende Präsident Jair Bolsonaro, ein früherer Fallschirmjäger, sprach sich offen für Folter aus und verherrlichte die Militärdiktatur. Seit Ende der Militärdiktatur gab es keine Präsidentschaft, die so viele Militärangehörige auf zivile Posten setzte wie Bolsonaro. Nach der verlorenen Präsidentschaftswahl im Herbst 2022 griffen seine gewalttätigen Anhänger am 8. Januar 2023, wenige Tage nach der erneuten Amtsübernahme von Lula, in Brasilia Regierungsgebäude an. Der frühere Armeechef bestätigte, dass es vorher ein geheimes Treffen gegeben habe, um einen Putsch gegen Lula zu planen.
Am 31. März 2024 jährte sich der Militärputsch in Brasilien zum 60. Mal. Der amtierende Präsident Lula stoppte im März 2024 das vom Justizministerium zum Jahrestag angekündigte Museum der Erinnerung und Menschenrechte. Für ihn ist der Militärputsch Vergangenheit. In „Ainda estou aqui“ ist sie jedoch wieder Gegenwart. Der Film richtet das Scheinwerferlicht auf die Opfer der Militärdiktatur – gerade heute ist dies umso wichtiger. Denn nicht nur in Brasilien, sondern auch in anderen Ländern Südamerikas, wie etwa in Argentinien und Chile, gibt es Bestrebungen, die Früchte der Vergangenheitsbewältigung zunichtezumachen.
Der große Gewinner des Abends ist der Film „Anora“. Gleich fünf Oscars holte die Komödie, darunter in der Kategorie „bester Film“. Mit einem Budget von nur sechs Millionen US-Dollar war „Anora“ zu Beginn der Filmpreissaison wohl kaum auf dem Radar der Experten gewesen. Der Streifen erzählt von einer Sexarbeiterin aus New York, die spontan einen russischen Oligarchensohn heiratet.
Bester Film: „Anora“
Bester internationaler Film: „Ainda estou aqui“ (Brasilien)
Beste Regie: Sean Baker für „Anora“
Beste Hauptdarstellerin: Mikey Madison für „Anora“
Bester Hauptdarsteller: Adrien Brody in „Der Brutalist“
Beste Nebendarstellerin: Zoe Saldaña in „Emilia Pérez“
Bester Nebendarsteller: Kieran Culkin in „A Real Pain“
Beste Kamera: Laurie Crawley für „The Brutalist“
Bester Schnitt: Sean Baker für „Anora“
Bester Ton: Gareth John, Richard King, Ron Bartlett, Doug Hemphill für „Dune – Part Two“
Bestes Originaldrehbuch: „Anora“ von Sean Baker
Bestes adaptiertes Drehbuch: „Konklave“ von Peter Straughan
Beste Musik: Daniel Blumenberg für „The Brutalist“
Bester Song: Chansonnière Camille und Clément Ducol für „El Mal“ in „Emilia Pérez“
Bester Animationsfilm: „Flow“ von Gints Zilbalod
Bester Dokumentarfilm: „No Other Land“ von Yuval Abraham, Basel Adra, Rachel Szor und Hamdan Ballal

De Maart

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