Mittwoch5. November 2025

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LinksliberalismusTrudeaus Ende: Gründe für das politische Scheitern 

Linksliberalismus / Trudeaus Ende: Gründe für das politische Scheitern 
Kanadas Premierminister Justin Trudeau kündigt am 6. Januar seinen Rücktritt an. Er sagt, er wolle seine Amtsgeschäfte weiterführen, bis die liberale Regierungspartei einen neuen Anführer hat.  Foto: Dave Chan/AFP

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Justin Trudeaus Rücktritt überraschte niemanden mehr. Die linke New Democratic Party (NDP) hatte der Minderheitsregierung des liberalen Premierministers im Unterhaus des Parlaments von Ottawa das Vertrauen entzogen. Seitdem hat Trudeaus Regierung kein Gesetz mehr durchgebracht. Ihr Scheitern hat viele Gründe und ist ein Beispiel für die weltweite Krise der Linksliberalen.

Neben der konservativen Opposition hatten selbst Dutzende Liberale dem einst so beliebten Justin Trudeau das Vertrauen entzogen und sich für seinen Rücktritt ausgesprochen. Die NDP erklärte, sie würde in einem Misstrauensvotum gegen den 53-Jährigen stimmen, ebenso wie die Konservative Partei und der separatistische Bloc Québécois. Gegen die Liberalen schlug der Konservativen-Parteichef Pierre Poilievre populistische Töne an. Er erweist sich nicht nur als Hardliner in der Bekämpfung der Kriminalität und lobt den „ultraliberalen“ argentinischen Präsidenten Javier Milei als Vorbild im Bürokratieabbau. Im Gegensatz zum designierten US-Staatschef Donald Trump spricht er sich für Migration aus.

Gut neun Jahre hat Trudeau Kanada regiert. Der Sohn des einstigen Premierministers Pierre Trudeau (1968-1979 und 1980 bis 1984) war in die Fußstapfen seines Vaters getreten und wurde zum „Poster Boy“ der Liberalen, wie ihn seine politischen Gegner nannten. Andernorts wurde er als „Sonnyboy“ bezeichnet. Doch verschiedene Skandale und wirtschaftlich-soziale Probleme ließen seinen Stern sinken. Seine Partei steht für progressive Positionen in der Gesellschaftspolitik und für eine ordoliberale Wirtschaftspolitik. Während in Washington Trump wieder ins Weiße Haus einzieht, droht Kanada ein mehrmonatiges politisches Vakuum. Immerhin stehen momentan das liberale Abtreibungsrecht, die LGBTQ-Rechte, die Cannabis-Legalisierung und die Migrationspolitik noch nicht zur Debatte.

„Lichtgestalt“ der Liberalen

„Trudeau startete als Gegenmodell zu Trump“, schrieb unlängst der Zürcher Tagesanzeiger. Manche bezeichneten ihn als „Lichtgestalt“ der Liberalen, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass ein Unterschied zwischen Liberalen in Kanada und Liberalen in den USA besteht und dass es einen zwischen Liberalen in Nordamerika und Europa gibt. Liberal steht in den USA oftmals für linksorientierte und sozialdemokratische Überzeugungen. US-Liberale treten für Religions- und Meinungsfreiheit oder das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehen ein und wollen den Staat aus dem Privatleben heraushalten, während sie auf wirtschaftlicher Ebene für den Staat eine prägende Rolle vorsehen. In diese Richtung steuerte der amerikanische Liberalismus, stellt der deutsche Politologe Jan-Werner Müller fest, ab Mitte des 20. Jahrhunderts, als er sich zunehmend vom klassischen europäischen Liberalismus entfernte, um dem Sozialismus Wind aus den Segeln zu nehmen. Seit dem Ende 1960er Jahre sei der Liberalismus jedoch nach Müllers Worten zum „Synonym für einen aufgeblähten, von arroganten und letztlich unverantwortlichen Ostküsten-Eliten gesteuerten Wohlfahrtsstaat“ geworden.

Linksliberale Strömungen gibt es seit dem 19. Jahrhundert, als es um die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte gegen die Kirche und andere reaktionäre Kräfte ging. Allerdings wurde damals noch der Aufbau eines Sozialstaats abgelehnt. Erst Theodor Barth und Friedrich Naumann vertraten sozialpolitische Positionen. Linksliberale wurden auch als radikaldemokratisch oder als Radikale bezeichnet. Beispiele sind etwa die „Radicals“ im Vereinigten Königreich des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts, die an der Wandlung der Whigs in die Liberal Party beteiligt waren; in Frankreich bezeichneten sich die Republikaner schon ab 1835 als „parti radical“ und sahen sich als Vorkämpfer einer grundlegenden Erneuerung der politischen Institutionen; auch in der Schweiz war die Entwicklung des Radikalismus eng mit dem Liberalismus verbunden, radikale Liberale bezeichneten sich jedoch selten als Radikale, sondern als Freisinnige oder „libéraux avancés“; in Argentinien kann die Unión Cívica Radical (UCR), die 1891 gegründete älteste noch existierende Partei des Landes, als linksliberal bezeichnet werden.

In Deutschland wurde etwa die Deutsche Demokratische Partei (DDP) während der Weimarer Republik als linksliberal betrachtet. Einer ihrer Gründer, der Jurist Hugo Preuß, entwarf die Weimarer Reichsverfassung. Ein weiterer bedeutender linksliberaler Politiker – und Historiker – war zu jener Zeit der Friedensnobelpreisträger Ludwig Quidde. Politisch besonders einflussreich war der Linksliberalismus später in der Bundesrepublik in der Zeit der Sozialliberalen Koalition von SPD und FDP (1969-1982). Damals bekannte sich Letztere mit ihren Freiburger Thesen (1971) zu einem „demokratischen und sozialen Liberalismus“. Als besagte Koalition zerbrach, traten einige Liberale aus der FDP aus und in die SPD ein, darunter der spätere EU-Kommissar Günter Verheugen. Bedeutende Persönlichkeiten der linksliberalen Strömungen waren bzw. sind Gerhart Baum, Burkhard Hirsch und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Mittlerweile hat die Gruppe innerhalb der FDP deutlich an Bedeutung verloren, während sie in anderen Parteien auftauchte, etwa bei der SPD oder bei den Grünen, wenn es um die, nach Worten des Soziologen Andreas Reckwitz, „Erweiterung der subjektiven Rechte des Individuums“ und eine „kulturelle Diversität“ der Gesellschaft ging.

In den Kontroversen um Identitätspolitik und Meinungsfreiheit gerät das „linksliberale Milieu“ häufig in den Fokus. So etwa 2021 in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Je nach politischem Standort gilt es als die Trägerschicht einer selbstgerechten Annullierungskultur oder aber als Bastion des Fortschritts gegen den Rechtspopulismus.“ Vor allem die sogenannte liberale Elite wird ins Visier genommen, wenn etwa Doug Ford, der konservative Premierminister der kanadischen Provinz Ontario, diese beschrieb als „Menschen, die auf die durchschnittlichen, gewöhnlichen Leute herabschauen und denken, dass sie klüger sind, und dass sie es besser wissen und uns sagen können, wie wir unser Leben leben sollen.“

Philosophische Kronzeugen

Josef Früchtl weiß, dass es die liberale Linke „gegenwärtig nicht leicht“ hat. Der emeritierte Professor für Philosophie an der Universität von Amsterdam schreibt in der jüngsten Ausgabe des Philosophie-Magazins: „Sie wird zum einen ideologisch zerrieben zwischen den Mühlsteinen von linkem und rechtem Populismus, der das ‚Volk‘ gegen die ‚Eliten‘ ausspielt und ebenso autoritäre wie nationalistische Lösungen anpreist, während ein liberales Selbstverständnis auf eine antiautoritär-demokratische und weltbürgerliche Haltung baut.“ Früchtl erkennt in der Kritik am linksliberalen Mainstream einen „wahren Kern“ und nennt dabei den US-Philosophen Richard Rorty (1931-2007), der selbst links und liberal war, als Kronzeugen. Um zu verstehen, was an dem Vorwurf berechtigt sei, empfiehlt er die Lektüre von Rortys Buch „Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus“. Es gehe dem Philosophen darum, „das eigene Land im Geist der Verfassungsideale von Freiheit, Glücksstreben und gemeinschaftlicher Verbundenheit voranzubringen“. Es gehe dabei nicht um Nationalismus, sondern um Patriotismus, nicht um eine Ideologie, sondern um das, was Rortys Kollege und Freund Jürgen Habermas einmal „Verfassungspatriotismus“ genannt hat.

Rorty steht in der US-amerikanischen Tradition des philosophischen Pragmatismus eines John Dewey (1859-1952). In seinen Vorlesungen – zehn davon sind gesammelt in dem posthum erschienenen Band „Pragmatismus als Antiautoritarismus“ – nennt er diesen als eine Hauptmaxime seines Denkens, bereits vorher Freiheit und Toleranz als weitere Maxime, die sein politisches Denken geprägt haben, ergänzt durch den Begriff der Solidarität in seinem zweiten Hauptwerk „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ (1989), in dem er die Utopie einer liberalen Gesellschaft umreißt.

Rortys Kollege Michael J. Sandel wiederholte am Ende des für die liberale Demokratie so verheerenden Superwahljahres, was er bereits vorher kritisiert hatte. Etwa, dass die Linke den Patriotismus aufgegeben habe und dass die Überheblichkeit der liberalen Eliten das Aufkommen von Ressentiments und den rechtspopulistischen Vormarsch gefördert habe. Sandels Diagnose setzt bei der tiefen Unzufriedenheit der arbeitenden Bevölkerung an. Deren Ursachen sieht er in den Folgen der neoliberalen Globalisierung, im Anstieg der ökonomischen Ungleichheit und in der fehlenden sozialen Anerkennung. Das „Gerede vom Aufstieg“ vermittle den Erfolgreichen, dass sie ihren Erfolg verdient haben, und jenen, die es nicht geschafft haben, dass sie daran selbst schuld seien. Progressive Politik, und in diesem Sinne, müsse sich mit der Würde der Arbeit und der arbeitenden Menschen befassen und die strukturelle Ungleichheit bekämpfen. Wenn dies nicht geschieht, wird Justin Trudeau nicht der letzte linksliberale Hoffnungsträger sein – von denen es übrigens nur noch wenige gibt –, der das Handtuch wirft.