Den Bus habe ich verpasst. Während ich auf den nächsten warte, spüre ich schon die Nasskälte. Das Thermometer zeigt nur knapp über null Grad. Am Bahnhof steige ich in die Tram um und fahre bis zum Centre Hamilius. Es ist fast halb zehn, und ich habe noch nichts gegessen. Ich betrete eine Bäckerei und suche mir einen Muffin aus. Sofort wird mir bewusst, dass er so viel kostet, wie ich vor 15 Jahren an einem Tag durch Betteln zusammengekriegt habe. Die Inflation hat ihre Spuren hinterlassen.
Es ist also nicht das erste Mal, dass ich den Selbstversuch als Bettler unternehme: Schon 2009 war ich auf die Straße gegangen. Auch damals hatte ich mich im Winter zuerst in die hauptstädtische Fußgängerzone gesetzt, einen leeren Kaffeebecher vor mir aufgestellt und gewartet. Und schon damals kam ich aus einem Gefühl der Wut zu dem Entschluss. Immer häufiger war das Gefühl in mir aufgekommen, dass zwar viel über Armut und Betteln gesprochen wurde, aber nur wenige, vor allem Politiker, überhaupt wussten, wovon sie sprachen. Heute, ein Jahr nach der Einführung des sogenannten Bettelverbots, ist es nicht anders.

Ich bin in behüteten Verhältnissen aufgewachsen. Meine Eltern waren für mich immer da. Ich hatte stets ein Sicherheitsnetz zur Verfügung. Einen Rückfahrschein in die Gesellschaft. Das Schicksal hat es gut mit mir gemeint. Doch es gibt viele Menschen, die nicht so viel Glück hatten: weder Netz noch doppelten Boden, keine intakte Familie und keinen Schutzengel. Ich lernte einige kennen, die aus unterschiedlichen Gründen abgestürzt waren. Andere verfielen dem Alkohol oder nahmen andere Drogen. Manche haben die Kurve gekriegt und sich aufgerappelt. Andere sind gestorben.
Das „stille“ Betteln
Mit Wut im Bauch fängt niemand zu betteln an, weiß ich, sondern aus Verzweiflung. Schließlich bedarf es einiges an Überwindung, sich auf die Straße zu setzen. Oft war ein Schicksalsschlag vorausgegangen oder eine ganze Kette unglücklicher Umstände. So wie bei Dominik Bloh, den ich vor kurzem kennen gelernt habe, als er in Luxemburg sein zweites Buch vorstellte. Er war mehr als zehn Jahre obdachlos, nachdem ihn seine psychisch kranke Mutter im Alter von 16 Jahren auf die Straße gesetzt hatte. „Die Straße hat mich erst mal komplett verschluckt“, sagte er mir.
Dominik hat es wieder geschafft, sein Buch „Unter Palmen aus Stahl“ wurde ein Bestseller. Für seine Idee, mit der Hilfe von Sponsoren einen Duschbus einzurichten, erhielt er das deutsche Bundesverdienstkreuz. Heute engagiert er sich gegen Obdachlosigkeit und hat sein zweites Buch veröffentlicht: „Die Straße im Kopf“. Denn er weiß: „Die Straße vergisst du nie“. Mich hat es auch nie losgelassen, wie ich die in den 80er Jahren die ersten Bettler erlebte: Punks, die Geld für Bier schnorrten. Aber die mit Abstand meisten Bettler tun es nicht wirklich freiwillig. Sie tun es, weil ihnen nichts mehr übrigbleibt. Bis es dazu kommt, ist vorher schon einiges passiert.
Die Straße vergisst du nie
In der Diskussion um das Bettelverbot wird häufig von aggressivem Betteln gesprochen. Doch das gibt es eher selten. In den meisten Fällen handelt es sich um ein „stilles“ Betteln. Obwohl es ein allgemeines Freiheitsrecht ist, scheint selbst das die bürgerliche Gesellschaft zu stören. Reich wird vom Betteln niemand, selbst nicht durch das sogenannte organisierte Betteln. Der Vorwurf richtet sich vor allem als versteckte Ressentiments gegen Roma-Familien, die auch aus der Not handeln, weil die Arbeitslosigkeit in den Ländern, aus denen sie kommen, ihnen keine andere Wahl lässt.
„Große und emotionale Einsamkeit“
Wenn ein einzelner Bettler laut einer Untersuchung des „Centre d’étude et de recherche sur la philanthropie“ (CerPhi) in Frankreich an einem guten Tag auf 30 Euro kommt, dann stehen auf der anderen Seite die zumindest anfängliche Scham des Bettlers, die abschätzigen Blicke oder gar deren Aggression – denn wenn von Aggressionen gesprochen werden kann, dann sind es eher nicht die der Bettelnden. Die Forscher haben zudem eine „große und emotionale Einsamkeit“ festgestellt. Hinzu kommt die unerträgliche Langeweile, die sich breitmacht: Wer hört schon Musik oder Podcasts beim Betteln? Sogar das Anschauen der Passanten sollte vermieden werden, denn sie würden sich durch die Blicke belästigt fühlen.

Ich habe die Tage nicht vergessen, die ich „undercover“ auf der Straße verbrachte, zwischen den einzelnen Hilfsstrukturen pendelte, im Foyer Ulysse übernachtete, die Kälte, die ich zu spüren bekam, das Gefühl der Niedergeschlagenheit, das sich in ähnlich hoher Geschwindigkeit breitmachte, als ich um Geld bettelte, und die Wärme, die ich empfing, als ich bei der „Stëmm vun der Strooss“ zu Mittag aß und ganze Nachmittage dort verbrachte, um mit Leuten unterschiedlicher Herkunft zu sprechen.
Schon damals sagte mir Alexandra Oxacelay, die heutige Direktorin der Organisation, dass die Zahl der Bedürftigen gestiegen sei. Etwa 400 Menschen kommen heute täglich zur „Stëmm“, die in Hollerich, Esch und Ettelbrück jeweils ein „Restaurant social“ hat. Für 50 Cent gibt es dort eine warme Mahlzeit. Insgesamt werden an den drei Standorten etwa 720 Mittagessen ausgegeben. Dabei sind die sozialen Restaurants nur ein Teil der zahlreichen Aktivitäten der „Stëmm“, u.a. neben „Stëmm Caddy“, „Dr. Stëmm“, „Immo Stëmm“, „Schweessdrëps“ und „Kleederstuff“.
Dass schon vor 15 Jahren jeder achte Einwohner Luxemburgs vom Risiko der Armut betroffen war, gibt zu denken. Dass die Wohnungsnot bereits damals eine Ursache war, zeigt zumindest, wie wenig die Probleme bis heute gelöst werden konnten. Im Gegenteil: Sie nahmen zu. Nach offiziellen Angaben war im Jahr 2023 fast ein Fünftel der Einwohner Luxemburgs von Armut bedroht. Die Armutsquote ist besonders unter Alleinerziehenden hoch, ebenso unter Mietern und Jugendlichen.
Viele macht das Leben auf der Straße krank. Sie haben irgendwann keine Kraft mehr, sich durchzuschlagen.
In vielen Gesprächen hatte ich erfahren, wie schnell man den Boden unter den Füßen verlieren kann und wie schwer es ist, wieder in ein geregeltes Leben zurückzufinden, und wie ungewohnt, wieder eine Wohnung zu haben, ein eigenes Bett und Badezimmer, und nicht sein ganzes Hab und Gut immer mit sich herumschleppen zu müssen. Dominik Bloh erzählte mir, dass er zum Glück nicht alkohol- oder drogenabhängig wurde. Das ist eher selten bei Menschen, die auf der Straße leben. „Viele macht das Leben auf der Straße krank“, sagt mir Alexandra Oxacelay. „Viele werden psychisch krank. Sie haben irgendwann keine Kraft mehr, sich durchzuschlagen.“
Marco hingegen blieb von der Drogenabhängigkeit nicht verschont. Ihm war ich damals begegnet. Er hatte seinen Job verloren, erhielt aber kein Arbeitslosengeld und konnte seine Miete nicht mehr bezahlen, RMG hatte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekommen, er war gerade 25 geworden. Mit ihm war ich eine Zeit lang unterwegs. Ich lernte die verschiedenen Hilfseinrichtungen kennen, von denen es heute einige mehr gibt. Später begegneten wir uns noch mehrere Male – er sagte, er wolle alles aufschreiben, und hatte dafür immer einen Block für Notizen dabei.
Ich gehe zur rue Philippe II und breite dort vor der Boutique von Chanel meine Decke aus, stelle den Rucksack ab und setze mich hin. Wegen meines lädierten Knies kann ich weder knien noch im Schneidersitz verharren. Ich stelle meinen Becher ab und warte. Die ersten Passanten kommen vorbei. Kaum einer nimmt mich wahr oder will mich wahrnehmen. Mehr oder weniger krampfhaft wird weggeschaut. Ich versuche selbst, niemanden anzuschauen, was mir nicht immer gelingt. Im Schaufenster auf der anderen Straßenseite läuft in Dauerschleife ein Videowerbeclip von Dolce & Gabbana.

Gefühl der Unsichtbarkeit
Die Geschäfte haben mittlerweile geöffnet. Ein paar Lieferanten halten. Es ist wohl nicht der beste Zeitpunkt für mich. Doch überraschenderweise bleibt nach einigen Minuten ein älterer Mann stehen und holt zwei Euro aus seinem Portemonnaie. Er gibt es mir in die Hand und sagt: „Wegen meines Rückens kann ich mich leider nicht bücken.“ Ich lächle und bedanke mich. Das fängt ja gut an. Doch der spendable Herr sollte eine Ausnahme gewesen sein. Lange geschieht nichts. Langweile macht sich breit. Ich denke nach. Ich merke schnell, wie dehnbar die Zeit ist. Wer vorbeikommt, ignoriert mich. Bin ich unsichtbar?
Spätestens nach einer Stunde weiß ich, dass der Lieferverkehr für mich „geschäftsschädigend“ ist. Doch bevor ich mir aus dieser Überzeugung einen anderen Platz suche, geht die Tür der Boutique auf und es tritt ein Mann heraus. „Würden Sie sich bitte einen anderen Platz suchen“, sagt er freundlich, aber bestimmt und fügt hinzu: „Hier dürfen Sie nicht bleiben.“ Ich bin einsichtig, nehme meine Sachen und ziehe weiter. Zuerst probiere ich es in der Grand-rue, dann in der Kapuzinerstraße und schließlich an der place d’Armes direkt neben dem Cercle Cité.
Ich leiste einem jungen Mann Gesellschaft, der dort schon mit seinem Becher sitzt, und komme schnell mit ihm ins Gespräch. Er heißt Tom. Er erzählt mir, dass er seit einem Jahr wieder auf der Straße sei, nachdem sich seine Partnerin von ihm getrennt habe. Die übliche Mixtur auf der Abwärtsspirale – Job weg, Scheidung oder Trennung, Alkohol oder Drogen – oder alles zusammen, so heißen die Stufen auf der Rolltreppe des Abstiegs: Viele Biografien auf dem Weg nach unten ähneln einander.
Bei Tom hat es viel früher angefangen. Schon seine Kindheit und Jugend seien schwierig gewesen, sagt er. Er habe sie seit seinem elften Lebensjahr in einem Heim für Schwererziehbare verbracht. Insgesamt sei er schon 13 Jahre lang obdachlos gewesen, erzählt er mir. Doch er wirkt optimistisch. „Man muss freundlich sein“, sagt er, „so geben einem die Leute auch eher etwas. Außerdem kennen mich viele, was ein großer Vorteil ist. Manche geben mir einen Schein.“ So wie etwa eine ältere Frau, die gezielt zu uns kommt und Tom fünf Euro in die Hand gibt. Ich gehe leer aus. Die Frau entschuldigt sich sogar, dass sie nicht mehr geben kann. Am Tag komme er manchmal auf bis zu 80 Euro. Später sagt er mir, dass er bald eine Therapie in Deutschland machen könne.
Eine junge Frau kommt zu uns. Es ist Vera, eine Freundin von Tom. Sie habe bereits am Theaterplatz gebettelt, sagt sie, und nun genügend Geld zusammen. „Ich setze mich ganz früh dort hin, wenn die Leute auf dem Weg zur Arbeit sind“, erklärt Vera. Im Gegensatz zu Tom, der im Abrigado, der Unterkunft für Drogenabhängige, an der route de Thionville übernachtet, ist Vera nachts mit ihrem Partner auf der Straße. Angesichts der Kälte, die mir mehr und mehr zusetzt, überlege ich, wie es wohl sein wird, zurzeit im Freien zu übernachten. „Man sucht sich etwa eine Passage oder einen Hauseingang“, erklärt mir Tom. „Meistens wird man erst morgens verjagt.“

Als ich vor 15 Jahren unterwegs war, hatte es heftig geschneit. Zum Glück hatte ich das Bett im Ulysse bekommen. Auch wenn in dem Fernsehraum nebenan eine aggressive Stimmung herrschte und ständig gestritten wurde. Heute ist es etwa die „Wanteraktioun“, wo Obdachlose übernachten können. Doch nur bedingt, weiß ich. Um dort aufgenommen zu werden, muss man mindestens schon drei Monate in Luxemburg sein. Eine Ausnahme werde für eine Nacht gemacht, hat man mir erklärt. Wer eine schnelle Unterkunft braucht, kann zum Beispiel zum „Premier Accueil“ von Inter-Actions gehen.
Als zwei Polizisten bei uns vorbeikommen, weisen sie uns darauf hin, dass wir unsere Becher näher zu uns stellen sollten. Sie sagen dies freundlich, aber bestimmt. „Die beiden kennen mich auch“, sagt Tom. Überhaupt habe er mit der Polizei keine Probleme. Sie achten darauf, dass sich die Bettler ruhig verhalten. Nur wenn einer jemanden belästigt, würden sie wirklich eingreifen. Manchmal sagen sie, man solle woanders hingehen. Wie man mir erzählt, sei ein Rom festgenommen worden. Er hatte erzählt, dass die Polizei ihn 36 Tage eingesperrt habe.
Zu Hause bei der „Stëmm“
Allmählich ist es Zeit zum Weiterziehen. Trotz langer Unterhosen, einem dicken Pullover, einer Winterjacke, einer Mütze und einer Kapuze hat sich die Kälte allmählich durch den ganzen Körper ausgebreitet. Am Gefrierpunkt wird es ungemütlich. Zusammen mit Tom mache ich mich auf den Weg. Er muss in der Nähe des Bahnhofs etwas abholen. Ich erinnere mich, wie es beim ersten Mal war, als ich von einer Struktur zur nächsten wanderte. Über die Passerelle gehe ich nach Bonneweg zum Open Space von Inter-Actions.
Miki Vujovic sagt mir, dass in den vergangenen Jahren immer mehr Leute aus dem Ausland gekommen sind. „Viele Neuankömmlinge glauben noch an den ‚Luxembourg Dream‘ und meinen, hier gibt es Arbeit und Wohlstand für alle“, sagt mir der ehemalige Champion in verschiedenen Kampfsportarten, heute Streetworker bei Inter-Actions, der auf eine lange Berufserfahrung zurückblickt. Immer wieder hat er Jugendliche aus problematischen und weniger problematischen Verhältnissen mit Kampfsport aus der Perspektivlosigkeit geholt. Im Open Space laufen zahlreiche Projekte. Und einmal pro Woche bietet ein Friseur seine Dienste an.
Viele Neuankömmlinge glauben noch an den ‚Luxembourg Dream’
Ebenso von Inter-Actions sind die Mitarbeiter von „A vos côtés“, die sich im Vergleich zu den Streetworkern eher als Mediatoren verstehen. Bei ihren Rundgängen haben sie Kontakt zu den Bewohnern wie auch zu den Mitarbeitern der Geschäfte. Präsenz zeigen, den Dialog suchen und den Einwohnern Sicherheit vermitteln, gehört zu ihren Aufgaben. „Wir sprechen mit den Leuten und sagen aber auch Bettlern, dass sie an der einen Stelle nicht bleiben können“, erklärt mir Charlie, die gerade mit zwei Kollegen ihre Runden dreht.
Ich ziehe weiter zum Bonneweger Kulturzentrum zur Weihnachtsfeier der „Stëmm vun der Strooss“. Am frühen Nachmittag ist der Festsaal bis fast auf den letzten Platz gefüllt. Ich erkenne einige alte Bekannte wieder, so etwa Mike, den ich schon vor 15 Jahren kennengelernt habe. Seine Freunde und er sind mit ihren Hunden da. Zum ersten Mal musste ein zusätzliches Zelt vor dem Gebäude aufgebaut werden. Die „Stëmm“ erlebt einen regen Zulauf. Während ich mir einen Platz in dem Zelt suche, treffe ich auch Tom. Er ist zum Essen gekommen und trifft viele Bekannte. Die „Stëmm“ bietet ihm ein wenig das Gefühl der Geborgenheit. „Aber ich sehne mich oft nach einer Wohnung“, sagt er, „in die ich abends ‚nach Hause‘ komme.“ Als ich mich am Abend auf den Weg nach Hause mache, sehe ich, wie ein junges Paar sich in einem Hauseingang niederlässt. Als ich aus dem Bus aussteige, schaue ich aufs Thermometer. Es sind mittlerweile unter null Grad.

De Maart

ich würde wie einst Charlie Chaplin in "Goldrush" versuchen meine Dienste für kleines Geld anzubieten.Das hält warm und man hat etwas nützliches getan.
In Nîmes stand heuer ein Mann an der Ampel und bot eine schnelle Scheibenreinigung an. Hat sicher mehr verdient als mit dem Rücken an einer Wand zu sitzen.
Ich habe nie gebettelt und werde es wahrscheinlich dank gluecklicher umstaende in meinem leben auch nie tun muessen...aber dass sowas extrem unangenehm sein muss leuchtet mir ein und muesste eigentlich jedem einleuchten.