Montag10. November 2025

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Aus dem Schatten ins LichtFotoausstellung der CSL rückt Schicksale der Ärmsten in den Fokus

Aus dem Schatten ins Licht / Fotoausstellung der CSL rückt Schicksale der Ärmsten in den Fokus
Claude Frisoni und Raymond Reuter haben lange und intensiv über die Armut in Luxemburg recherchiert. Das Ergebnis ist unter anderem in der Passerelle des Hauptbahnhofs zu sehen. Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

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Eine Fotoausstellung thematisiert die Schicksale sozial benachteiligter Menschen – und die Ergebnisse einer fehlgeleiteten Politik.

Fast wären sie mit Füßen getreten worden. Stéphanie und Marcel sind auf dem Boden der hauptstädtischen Bahnhofshalle zu sehen. Besser gesagt: Ihr Foto wurde dort angebracht. Das Porträt des Paares ist Teil der Ausstellung „Les exclus du festin“ mit Fotos von Raymond Reuter und Texten von Claude Frisoni, die bis zum 16. Juli in der Luxemburger Gare und bis zum 15. September in der „Chambre des salariés“ (CSL) zu sehen ist. Das Projekt wurde von der CSL finanziert.

Stéphanie lebte sieben Jahre lang mit ihrem damaligen Freund in Deutschland, bis dieser sie sitzen ließ. Sie kehrte nach Luxemburg zurück. Die Kokainabhängige will nicht, dass ihre drei Kinder sie in ihrem jetzigen Zustand sehen. Wie sie ist auch Marcel auf der Straße gelandet, wo sich die beiden kennenlernten: „Wir sind zusammen in der Scheiße gelandet, wir werden auch gemeinsam wieder herauskommen.“

Die letzten Worte klingen halbwegs positiv im Vergleich zu den Umständen, in denen sich das Paar befindet. Nicht besser ist es den anderen Menschen ergangen, denen Raymond Reuter und Claude Frisoni begegnet sind. Der 72-jährige Fotograf ist unter anderem mit seinen Bildbänden über die großherzogliche Familie und einem Buch über Luxemburger in der Welt bekannt geworden, der 68 Jahre alte Schauspieler, Schriftsteller und Theatermacher beobachtet seit jeher mit kritischem Blick die luxemburgische Gesellschaft.

Wie schon bei „Gens du Luxembourg“ (2017) ergänzten die beiden einander symbiotisch und gingen sowohl systematisch als auch gewissenhaft an das Thema Armut in Luxemburg heran. „Es war das schwierigste Thema in meiner langen Karriere“, gibt Reuter zu. Zuerst nahmen sie Kontakt zu verschiedenen Hilfsorganisationen auf, die auf dem Terrain aktiv sind, unter anderem das Abrigado in Bonneweg, wo Rauschgiftsüchtige seit Jahren eine Anlaufstelle finden, um unter medizinischer Begleitung ihre Drogen zu konsumieren und übernachten zu können, oder die „Stëmm vun der Strooss“, die seit mehr als einem Vierteljahrhundert sozial benachteiligten Menschen hilft.

„Unser erster Feind ist der Mangel an Willen. Was zurzeit getan wird, ist nur der Versuch, das Elend zu verbergen. Man holt die Leute von der Straße, damit man sie nicht mehr sieht, man gibt ihnen zu essen. Man verhindert, dass sie sterben, aber man zwingt sie auch zu überleben. Das ist nicht würdig. Das ist nicht normal, dass in einem reichen Land noch Menschen auf der Straße leben, dass es so schwierig ist, Sozialwohnungen zu finden …“, wird Alexandra Oxacelay, die Direktorin der „Stëmm“, in der Ausstellung zitiert, die von der hauptstädtischen Bahnhofshalle über die Passerelle bis zum Sitz der Arbeitnehmerkammer in Bonneweg führt.

Geschichten hinter nackten Zahlen

CSL-Präsidentin Nora Back wirft am Tag der Ausstellungseröffnung die Frage auf, wie es möglich sein konnte, dass sich Luxemburg vom Musterschüler zum Spitzenreiter in negativer Hinsicht bei den Working Poor in der Eurozone entwickelte und dass die Einkommensungleichheit auf Basis des Gini-Koeffizienten zugenommen und den Durchschnitt der Europäischen Union überschritten hat. In ihrem „Panorama social“ weist die Arbeitnehmerkammer seit etwa zehn Jahren auf die Problematik der sozialen Ungleichheit und des gestiegenen Armutsrisikos hin. Darin befindet sich ein neues Kapitel unter dem Titel „La pauvreté au Luxembourg“, das über die „klassischen“ Indikatoren hinausgeht. „Wir haben die nackten Zahlen, aber hinter diesen Zahlen stecken viele Geschichten“, so Nora Back, Schicksale von Menschen, die unverschuldet durch das soziale Raster gefallen sind.

Tausende von Passanten betreten täglich die Fotos auf dem Boden der Bahnhofshalle
Tausende von Passanten betreten täglich die Fotos auf dem Boden der Bahnhofshalle Foto: Editpress/Fabrizio Pizzolante

Die CSL-Präsidentin begrüßt die Initiative von Reuter und Frisoni, das Phänomen der Armut in Luxemburg darzustellen und die Aufmerksamkeit auf eine Situation zu lenken, die sich immer weiter verschlechtert. Dabei haben Fotograf und Autor ihre Recherchen im Reich der Zahlen begonnen – oder besser gesagt: beim Statec –, um das Rätsel zu lösen, wie das Armutsproblem in dem Land, das beim Bruttoinlandsprodukt pro Person weltweit an erster Stelle liegt, überhaupt möglich ist. In ihrem Buch, das parallel zur Ausstellung erschienen ist, liefern die Autoren zunächst Zahlenmaterial, etwa dass 2021 hierzulande 115.980 Menschen unter der finanziellen Armutsgrenze leben. Aber wie bereits erwähnt: Die individuellen Schicksale der Personen werden erst jenseits der Zahlen sichtbar. Um das Sichtbarmachen derer, die sonst im Schatten leben, geht es Reuter und Frisoni.

„Unter den Reichen arm zu sein, ist nicht dasselbe wie unter den Armen reich zu sein“, schreibt Frisoni. Die eigentlichen Recherchen mussten behutsam geschehen. „Wir ließen uns drei Monate Zeit, um erst mal Kontakte zu knüpfen und ein Vertrauensverhältnis zu unseren Gesprächspartnern aufzubauen“, erklärt Reuter. „Ich wollte sie auch nicht einfach fotografieren. Uns ging es darum, diesen Menschen ihre Würde zu lassen. Dabei waren viele Kontakte alles andere als einfach. Einige der Personen hatten ein Prepaid-Handy zum Telefonieren und konnten sich nicht gleich zurückmelden. Eine saß zum Beispiel im Gefängnis.“ Als sie aus der Haft entlassen wurde, hatte sie nur eine Plastiktüte in der Hand. Ohne Aussicht auf Bleibe, Arbeit und Perspektive. Bei der Reintegration von entlassenen Häftlingen herrscht in Luxemburg nach wie vor ein großer Nachholbedarf.

Armutszeugnisse

Die Menschen, mit denen sie sprachen, leben in einer „Parallelwelt“, sagt Reuter, im Verborgenen. Wie etwa Jacques, der nach einem Burnout in die Psychiatrie kam, tablettenabhängig wurde, dreimal 14 Pillen pro Tag schlucken musste und 40 Kilo zunahm. Bevor er obdachlos wurde, war er eines der unzähligen Opfer von skrupellosen Vermietern, die ihm monatlich 1.200 Euro für zwölf Quadratmeter abknöpften. „Marchands du temple“, heißt ein Zwischentitel im Buch, ein anderer „Marchands du sommeil“, aber auch „Marchands d’illusions“ und schließlich „Marchands de misère“.

So etwas habe ich noch nie erlebt

Claude Frisoni

Schicksale wie das von Madame Rosa werden geschildert, die entdeckte, dass ihr gewalttätiger Ehemann 75.000 Euro Schulden bei Kreditwucherern aus Arlon gemacht hatte. Sie arbeitet jetzt bei einer Reinigungsfirma und muss das Geld abstottern. Ein anderes Schicksal ist das von Nicole, die ursprünglich aus Kamerun stammt und die von der ADEM das Schreiben erhielt, dass ihr kein Arbeitslosengeld mehr zustehe und sie das angeblich unrechtmäßige ausbezahlte Geld in der Höhe von 9.000 Euro zurückbezahlen müsse. Problem Nummer eins sei das Logement, so die Autoren, ein anderes stellen die unsäglichen „complications administratives“ dar.

Frisoni nennt es eine „absurdité administrative“ und Reuter fügt „kafkaesk“ hinzu. Eine unrühmliche Rolle spielt dabei die Beschäftigungsagentur. Ein Armutszeugnis. „Die Leute von der Adem müssten allesamt mal einen Monat lang ein Praktikum bei einer Hilfsorganisation machen“, fordert Claude Frisoni. Für ihn und den Fotografen Raymond Reuter waren die 18 Monate eine prägende Erfahrung. „So etwas habe ich noch nie erlebt“, sagt Frisoni. Und Reuter, der zum großen Teil analog, also mit Negativfilm fotografierte, und für einige Termine aus praktischen Gründen digital, sagt: „Wir haben viele Nächte nicht geschlafen, weil wir richtig am Boden waren.“