Wichtiger Schritt der Wiederannäherung: Nach monatelangen intensiven Verhandlungen haben sich Großbritannien und die EU auf eine neue Vereinbarung über den Status von Nordirland geeinigt. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premier Rishi Sunak unterzeichneten das mehr als 100-seitige Dokument nach einem kurzen Abschlussgespräch am Montag in Windsor, westlich von London. Er habe einen „entscheidenden Durchbruch“ erzielt, sagte der konservative Regierungschef später im Unterhaus. Unklar bleibt einstweilen, ob der Deal auch die Zustimmung der Brexit-Hardliner in der konservativen Regierungspartei finden wird.
Während von der Leyen am Nachmittag auf Schloss Windsor bei König Charles III. zum Tee eingeladen war, fuhr Sunak nach London zurück, wo er am Abend dem Unterhaus Rede und Antwort stand. Die Augen der eigenen Fraktion sowie des gesamten Parlaments waren dabei vor allem auf zwei am Brexit gescheiterte Amtsvorgänger des jungen Premiers gerichtet. Während Theresa May den Parteivorsitzenden unterstützte, blieb Boris Johnson der Sitzung fern – wohl eingedenk seiner beträchtlichen Mitverantwortung für die Probleme der jüngsten Zeit.
Unregierbare Provinz
Anders als von Johnson stets behauptet, machte nämlich das von ihm unterzeichnete Nordirland-Protokoll die Handelsbarrieren zwischen dem britischen Teil Irlands und der britischen Insel zwingend notwendig. Die gleichzeitig mit dem Austrittsvertrag der Brexit-Insel vereinbarte Sonderregelung soll den Frieden in der einstigen Bürgerkriegsregion wahren. Deshalb bleibt die Landgrenze zur Republik im Süden offen, was der katholisch-nationalistischen Bevölkerung wichtig ist. Um gleichzeitig die Integrität des Binnenmarktes zu gewährleisten, wurden zwischen Nordirland und Großbritannien Zoll- und Einfuhrkontrollen fällig, was die königstreu-protestantischen Unionisten verärgert.
Wo setzte sich London durch, wo Brüssel?
London: Sunak handelte Erleichterungen bei der Warenausfuhr von Großbritannien nach Nordirland aus. Geplant ist ein „grüner Korridor“ ohne Zollauflagen für Lebensmittel und Medikamente. Damit sei die Zollgrenze in der Irischen See de facto gebannt, sagte Sunak. Zudem soll die nordirische Regionalregierung in Belfast eine Art Einspruchsrecht gegen neue EU-Regeln erhalten.
Brüssel: In nordirischen Häfen soll der Zoll weiter alle Güter kontrollieren, die für das EU-Mitglied Irland im Süden der Insel bestimmt sind. Zudem will London der EU Daten zum Warenverkehr nach Nordirland in Echtzeit übermitteln. So bleibe der Schutz des Binnenmarkts gewahrt, betonte von der Leyen. Auch die Kernforderung der EU sieht sie erfüllt: keine „harte Grenze“ zwischen den beiden Teilen Irlands. Die offene Grenze garantiert das fast 25 Jahre alte Friedensabkommen vom Karfreitag 1998, das den rund 30-jährigen Nordirland-Konflikt mit mehr als 3.000 Toten beendete. (AFP)
Anlaufschwierigkeiten und allzu kleinliche Checks haben das Misstrauen dieser Bevölkerungsgruppe vergrößert. Deren größte Partei DUP verweigert seit mehr als einem Jahr die Beteiligung an der Belfaster Allparteien-Regierung, was die Provinz unregierbar macht. Als einzige größere Partei befürwortete die aus einer fundamentalistischen Sekte hervorgegangene Gruppierung 2016 den Brexit und befand sich damit in der Minderheit – 56 Prozent der Nordiren wollten in der EU bleiben.
Geduldig hat EU-Chefverhandler Maros Sefcovic die Betonköpfe auf der eigenen Seite beiseitegeschoben und mit den Briten einen tragfähigen Kompromiss ausgehandelt. Zukünftig soll es für die Wareneinfuhr aus Großbritannien nach Nordirland zwei Wege geben: Was für den Verbrauch im britischen Nordosten Irlands gedacht ist, wird nur noch in Sonderfällen kontrolliert. Hingegen bleibt es bei den Kontrollen für Waren, die in die irische Republik und damit den EU-Binnenmarkt weitergeleitet werden. Die Briten haben europäischen Kontrolleuren den automatischen Datenaustausch zugestanden. Zudem wird die sogenannte Trusted- Traders-Regelung bewährten und als integer eingestuften Firmen das Leben erleichtern.
Brexit-Ultras auf der Lauer
So weit, so gut. Besonders genau werden DUP-Chef Jeffrey Donaldson und seine Leute sowie die konservativen Brexit-Ultras jene Passagen des neuen Dokuments lesen, die von der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs EuGH handeln. Dessen Wächteramt über die Binnenmarkt-Regeln soll dem Vernehmen nach pragmatisch gehandhabt werden: Bei Streitfragen wären zunächst nordirische Gerichte zuständig. Diese könnten dann entscheiden, ob sie die Meinung des EuGH einholen wollen.
Im Unterhaus lobte Donaldson den Premier für dessen Einsatz, sprach aber von „verbleibenden Problemzonen“. Andere scheinen an Details weniger interessiert zu sein. Für die Brexit-Betonköpfe auf den Tory-Fraktionshinterbänken, die sich Europäische Reformgruppe (ERG) nennen, darf EU-Recht „ebenso wenig in Nordirland eine Rolle spielen wie in England, Schottland und Wales“, glaubt ERG-Chef Mark Francois: „Wir sind ja nicht dumm.“
Da sind viele in Nordirland anderer Meinung. Die Vorsitzende der konfessions-übergreifenden Alliance-Party, Naomi Long, gibt den konservativen Fundis gern Nachhilfe-Unterricht: „Wir sind nun mal ein besonderer Teil des Vereinigten Königreichs.“ Auch innerhalb der Torys sind sich viele der geografischen und historischen Besonderheit des irischen Nordostens bewusst. Ex-Premier John Major beispielsweise tut die Beteiligung des EuGH als „winzig und gelegentlich“ ab. Dadurch werde die Demokratie nicht gefährdet. Diese Gefahr bestehe vielmehr darin, das Belfaster Parlament weiter zu blockieren: „Dann wird die Demokratie verschwendet.“
Jenseits des leidigen Nordirland-Problems soll die neue Vereinbarung eine Entspannung zwischen London und Brüssel befördern, die durch das gemeinsame Eintreten für die Ukraine bereits begonnen hat. Die Rede ist von Reiseerleichterungen für die hochpopulären britischen Rock- und Popbands, deren Tourneen auf dem Kontinent jetzt durch tiefes bürokratisches Gestrüpp führen. Auch könnten sich die Briten wieder – ein Herzensanliegen vieler Wissenschaftler – am milliardenschweren Horizon-Programm beteiligen.
Von der Leyens Audienz bei Charles III. sorgte vorab für Verstimmung, weil Brexit-Ultras eine Politisierung des Königs fürchteten. Der Monarch treffe dauernd hochrangige Besucher aus dem Ausland „auf Anraten der Regierung“, teilte der Buckingham-Palast mit. Der Verfassungshistoriker Philip Murphy von der Londoner Universität UCL erinnerte gegenüber dem Tageblatt an die Konvention, wonach die Regierung das Staatsoberhaupt vor Peinlichkeiten bewahren solle. Durch die Audienz für Leyen bestehe „das Risiko, den König in eine politische Kontroverse zu verwickeln“.
De Maart
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