Sonntag16. November 2025

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Ukraine/RumänienBegegnungen mit Menschen am Rande des Krieges

Ukraine/Rumänien / Begegnungen mit Menschen am Rande des Krieges
Einfahrt zum ukrainischen Hafen von Reni, von wo aus über die Donau ebenfalls Getreide exportiert wird Foto: Georg van der Weyden

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Ein Jahr nach der russischen Invasion schmiedet kaum mehr ein Ukrainer Pläne. Was bleibt, sind die Gräber, der Schmerz und die Hoffnung auf den Sieg.

Radu tritt aufs Gas und bremst dann abrupt ab. Er flucht auf Rumänisch, denn aus der linken Lasterspur ist plötzlich ein weißer ukrainischer Pkw vorgeprescht. Rechts gibt es kaum ein Ausweichen, denn auch hier stauen sich die Laster. Wir sind in Giurgiulesti, am südlichsten Punkt der Republik Moldawien, am Ufer der Donau. Dort befindet sich der einzige Hafen des Landes. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist er auch für das große Nachbarland im Osten wichtig geworden. Denn der Export über den kleinen Hafen von Giurgiulesti ist viel sicherer als über Odessa und das Schwarze Meer voller russischer Kriegsschiffe. Vor allem Getreidelaster säumen den knapp anderthalb Kilometer langen Abschnitt der Europastraße E-87 zwischen der rumänisch-moldawischen und moldawisch-ukrainischen Grenze. Sie machen den wenigen Pkws ein Durchkommen kaum mehr möglich. Dazu peitscht ein scharfer Schneesturm über die Ebene zur Donau hin.

„Verdammt, wo wollt ihr denn bei diesem Wetter hin?“, knurrt der ältere Diensthabende am ukrainischen Grenzposten von Giurgiulesti halb mürrisch, halb lachend. Von hier geht es nur noch zu Fuß weiter, denn der Moldawier Radu will nicht in ein Kriegsland fahren. Die Grenzschützer sind mit älteren, langen Gewehren bewaffnet. „Vergesst nicht: Die Polizeistunde beginnt um 23 Uhr und dauert bis 5 Uhr morgens, da müsst ihr drinnen bleiben und bloß nichts fotografieren, sonst kriegt ihr’s mit dem Geheimdienst zu tun“, heißt es zum Abschied.

Im Bistro an der Grenze essen Lastwagenfahrer schweigend Kohlsalat und Fleisch. Sonnige Südseeinseln locken auf einer Fototapete. „Drei blutjunge Burschen liegen an unserer Heldenallee, der vierte wurde an der Seite seines Großvaters begraben“, sagt die Bedienung aus dem nahen ukrainischen Städtchen Reni karg und emotionslos.

Bei uns war es auch so, man weiß nie, wann es Elektrizität gibt und wann nicht. Wer es sich leisten kann, kauft sich einen Generator für 1.000 Dollar. Doch ich, woher soll ich so viel Geld nehmen?

Eine Rentnerin

Der Weg zum Busbahnhof des 18.000-Einwohner-Städtchens führt am Friedhof vorbei. Die „Heldenallee“ liegt unübersehbar gleich am Anfang des weiten Gräberfeldes. Fünf ukrainische Flaggen wehen alleine am frisch aufgeschütteten Grab von Jewgen Bugajnow, dem frischesten Kriegstoten der Grenzstadt Reni. 33 Jahre alt ist der ukrainische Soldat geworden. Bugajnow wurde im Oktober getötet, neben ihm liegt der erst 19-jährige Stanislaw Topola, der bereits im April gefallen ist. Ganz Reni kennt die beiden Männer, doch mit Fremden will man nicht über sie sprechen. „Das sind Helden“, sagt eine junge Passantin. Das Städtchen geht dem Anschein nach seinen gewohnten Gang. Schulkinder schlagen Eiszapfen vom niedrigen Rathausvordach und fechten damit am Straßenrand, die Erwachsenen machen Einkäufe und andere Besorgungen. „Die Inflation ist unglaublich hoch, ohne die Unterstützung meiner Tochter aus Atlanta in den USA könnte ich nicht überleben“, berichtet eine Rentnerin. Die Kinder in der gut 200 Kilometer entfernten Gebietshauptstadt Odessa hätten gerade wieder schulfrei bekommen, wegen Strommangels, berichtet die Rentnerin. „Bei uns war es auch so, man weiß nie, wann es Elektrizität gibt und wann nicht. Wer es sich leisten kann, kauft sich einen Generator für 1.000 Dollar. Doch ich, woher soll ich so viel Geld nehmen?“, sagt die zierliche Frau um die sechzig.

Der Kleinbus von Reni ins Bezirkszentrum Ismajl muss bei der Stadtausfahrt einen Armeeposten aus Beton und Sandsäcken passieren. Die Passagiere werden nicht kontrolliert. Bis auf einen gezielten russischen Raketenschlag auf eine Radar-Anlage zwischen den beiden Friedhöfen von Ismajl in den ersten Kriegstagen ist es im äußersten Südwesten der Ukraine bisher ruhig geblieben. Die angespannte Stimmung ist dennoch mit Händen zu greifen. Vor allem der Hafen ist für die ganze Ukraine wichtig geworden. Wie im moldawischen Giurgiulesti säumen auch hier Hunderte von Getreidelastern die alternden Hafenanlagen an der Ausfahrtsstraße nach Ismajl. Dazu kommen noch die Tanklaster mit Sonnenblumenöl. Die Ukraine ist der weltweit größte Exporteur dieser Speiseölsorte.

Neuzuzügler treiben die Mietpreise in die Höhe

Als der Kleinbus durch mehrere Dörfer zuckelnd endlich in Ismajl eintrifft, ist es dort längst stockdunkel. Hell beleuchtet sind nur ein paar Geschäfte, Licht spenden einzig Autos und Ampeln. Um einen Trinkwasserspender haben sich drei Rentner mit großen Plastik-Kanistern versammelt. „Früher war es hier auch spät abends noch taghell, doch seit wir Krieg haben, haben die Behörden den Strom abgeschaltet“, klagt einer der Männer. Er klagt nicht über die gezielten russischen Angriffe auf die gesamte Energie-Infrastruktur der Ukraine seit Anfang des Herbstes, denen erst Anfang Februar wieder eine wichtige Umspannstation bei Odessa zum Opfer gefallen ist. Zehn Tage dauerte es, bis der Schaden dort repariert werden konnte. Er sagt auch nichts über einen ukrainischen Sieg.

In der Gastrobar „Filin“ an der Hauptstraße der 80.000-Einwohner-Stadt, die wie Reni ebenfalls an der Donau gelegen ist und über einen großen Flusshafen verfügt, gibt es viel Kundschaft. Hier kehrt die städtische Jugend ein, die sich dies trotz Krieg noch leisten kann. Es sind vor allem junge Frauen und ein paar Männer ab fünfzig. Darunter sind auch einige materiell besser gestellte Neuzuzügler aus anderen Teilen der Ukraine. Diese Binnenflüchtlinge haben die Mietpreise in Ismajl dem Vernehmen nach um 100 Prozent ansteigen lassen.

In der Gastrobar „Filin“ im ukrainischen Ismajl versuchen die Menschen der 80.000-Einwohner-Stadt, ein normales Leben zu führen
In der Gastrobar „Filin“ im ukrainischen Ismajl versuchen die Menschen der 80.000-Einwohner-Stadt, ein normales Leben zu führen Foto: Georg van der Weyden

Um 20 Uhr leert sich das Lokal schlagartig, denn ab nun darf kein Alkohol mehr verkauft werden. „Natürlich habe ich Angst vor dem Krieg und vor meiner Einberufung, ich will gar nicht den Helden spielen“, sagt der Barman, ein 22-jähriger Einheimischer, der wie viele hier weder fotografiert werden noch seinen Namen in einer Zeitung sehen will. Er habe Angst, denn die Sterblichkeit an der Front sei viel höher als das Verteidigungsministerium im fernen Kiew zugebe, meint der junge Ukrainer. Er wolle sich aber auch nicht verstecken, was komme, komme eben. Dann erkundigt er sich über Möglichkeiten, im Ausland an westlichen Waffen trainiert zu werden. „Jetzt, wo die Ukraine Leopard-2-Panzer selbst aus Deutschland bekommt, müssen doch Soldaten daran geschult werden“, räsoniert er. So was würde ihm zusagen – nach Deutschland oder Polen zum Panzerfahrer-Training reisen.

„Jeder Tag bringt neue Überraschungen“

Die Fahrt zurück nach Rumänien folgt nach einer gespenstisch ruhigen Nacht unter Kriegsrecht am Folgetag der zweitwichtigsten südukrainischen Flüchtlingsstrecke. Sie führt ins Dorf Orliwka und von dort über die einzige Fährverbindung im Donau-Delta von der Ukraine nach Rumänien. „To Europe in 10 Minutes“ lautet der Werbespruch von porom.org aus besseren Zeiten der Donaufähre. Die Taxifahrt dauert länger als geplant, denn auch hier versperren Getreidelaster die engen Straßen über Dämme und Deiche auf der ukrainischen Seite des vor allem bei Ornithologen so beliebten Deltas der Donau. Der 53-jährige Fahrer Wolodymyr S., der sich zum Spaß „Selenskyj“ nennt, spricht bestens Englisch, denn er hat 25 Jahre lang als erster Schiffsoffizier die Weltmeere besegelt. Der russische Überfall auf die Ukraine hat ihn während eines Heimaturlaubs in Ismajl erreicht. Wegen des Krieges darf er als unter Sechzigjähriger nun nicht mehr zur See fahren, darf das Land nicht verlassen. Das sei bitter, klagt er. „Mittfünfziger wie mich ziehen sie eh nicht mehr für den Kriegsdienst ein“, meint er resigniert. „Soll ich also zu Hause sitzen und Däumchen drehen? Meine Ersparnisse aufessen und dann verhungern?“ Der Mann, der sich Selenskyj nennt, genießt es sichtlich, mit den Besuchern aus dem Ausland zu sprechen.

„Sich nach Rumänien absetzen? Das ist keine Option für mich!“, protestiert er. Dann erzählt der stattliche Mann, seine Tochter sei im Sommer nach Bukarest geflohen. „Sie ist geschieden und kinderlos – und sie hatte so unheimlich viel Angst.“ In der rumänischen Hauptstadt hätte sie eine Frauen-NGO gefunden, die ihre Wohnungsmiete zahlen würde. Nun würde sie eben von dort weiterhin als Lehrerin in Ismajl arbeiten. „Deutsch und Englisch kann man online auch aus Rumänien unterrichten – oder aus Goa“, lacht der verhinderte Seefahrer. Frauen hätten es nun eben leichter mit der Ukraine als Männer, schiebt er nach.

Die Fahrt über die eisig-bräunliche Donau dauert in der Tat nur zehn Minuten. Am rumänischen Grenzposten Isaccea warten die Mitarbeiterinnen der UNO-Agentur IOM (Internationale Organisation für Migration) vergebens auf ukrainische Flüchtlingsfrauen. Nur eine Rentnerin über 70 im blauen Kopftuch ist nach Rumänien gereist, doch sie will nur Verwandte besuchen. Vier ukrainische Autofahrer machen kurz beim Flüchtlingszelt gleich hinter der Grenze halt, um eine warme Gratis-Suppe zu essen. Auch sie brauchen keine Hilfe. „Das ist nicht immer so, jeder Tag bringt neue Überraschungen, das macht unsere Planung so schwierig hier“, sagt Denis Stamatescu, der rumänische Chef der Essenszelte.

Was die Zukunft bringt, hängt vom Kreml ab

Restaurantbesitzer Denis Stamatescu (2.v.r.) aus Constanța versorgt mit seinen Leuten seit Kriegsbeginn Flüchtlinge in Isaccea
Restaurantbesitzer Denis Stamatescu (2.v.r.) aus Constanța versorgt mit seinen Leuten seit Kriegsbeginn Flüchtlinge in Isaccea Foto: Georg van der Weyden

Der Restaurantbesitzer aus der 160 Kilometer entfernten Schwarzmeer-Stadt Constanța ist seit dem dritten Kriegstag hier. Stamatescu hat Tausende Euro Essensrationen gespendet und mit seinem Team 900.000 Essensrationen an ukrainische Flüchtlinge verteilt, wie er nicht ohne Stolz vorrechnet. „In den ersten Tagen kamen 800 Fußgänger mit der Fähre an, und diese fuhr nicht sechsmal täglich wie heute, sondern den ganzen Tag hin und zurück“, erzählt Stamatescu. „Heute waren es nur fünf Flüchtlinge hier in Isaccea, morgen könnten es 50 oder gar 500 sein“, meint der ausgebildete Manager. Niemand wisse, was die Zukunft bringe, das hänge leider vor allem vom Kreml ab.

Ich habe Heimweh, wir kehren bald zurück, ich kann nur nicht planen, wann genau, sobald es sicher ist eben

Alita Danukalowa, 76, ehemalige Schiffsmalerin

Alita und Grigori Danukalow aus Ismajl haben im Flüchtlingszentrum „Emanuel“ im rumänischen Galati Unterschlupf gefunden
Alita und Grigori Danukalow aus Ismajl haben im Flüchtlingszentrum „Emanuel“ im rumänischen Galati Unterschlupf gefunden Foto: Georg van der Weyden

Alita Danukalowa ist zwar in Archangelsk am russischen Weißen Meer zur Welt gekommen, doch die Russin will nichts vom Kreml abhängig machen. „Ich habe Heimweh, wir kehren bald zurück, ich kann nur nicht planen, wann genau, sobald es sicher ist eben“, sagt die 76-jährige ehemalige Schiffsmalerin aus Ismajl. „Wissen Sie, wir planen nur noch von Tag zu Tag, es ist eben Krieg“, sagt sie fast entschuldigend. Vor gut einem Monat ist Alina mit Ehemann Grigori, der Enkelin Anna und den beiden Urenkeln Artjom (4) und Taissa (6) aus Ismajl über Isaccea ins rund 100 Kilometer entfernte rumänische Gebietszentrum Galati mit seinen gut 300.000 Einwohnern geflohen. Dort haben sie im von einer amerikanischen Freikirche geleiteten Flüchtlingszentrum „Emanuel“ Unterschlupf gefunden. Das Zentrum kümmert sich vor allem um ältere Flüchtlinge, darunter viele Behinderte.

Anita hat vor zwei Jahren wegen einer zu spät behandelten Zuckerkrankheit beide Beine verloren, doch lässt sie sich an einem Tisch im großen Aufenthaltsraum sitzend davon nichts anmerken. „Wieso ich erst so spät geflohen bin? Ich weiß es nicht, es war einfach Zeit, ich hatte plötzlich schreckliche Angst, dass es bei uns in Ismajl so wie in Odessa kommt, dass die Russen immer mehr Raketen auf unsere Stadt abfeuern“, erklärt Alita, die beim Zerfall der UdSSR 1991 den ukrainischen Pass angenommen hat. „Die UdSSR, das waren noch gute Zeiten“, sagt ihr Mann Grigori. „Rede keinen Quatsch, wir wollen doch einfach nur Frieden“, widerspricht Alita.