Sonntag16. November 2025

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SchottlandRückschlag für die Unabhängigkeitsbewegung: Ministerpräsidentin Sturgeon kündigt Rücktritt an

Schottland / Rückschlag für die Unabhängigkeitsbewegung: Ministerpräsidentin Sturgeon kündigt Rücktritt an
Die „First Minister“ Nicola Sturgeon erklärt ihre Rücktrittsabsicht Foto: Jane Barlow/Pool/AFP

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Nach politisch turbulenten Wochen und Umfrage-Einbußen für ihre Nationalpartei SNP hat die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon ihren Rücktritt von Staats- und Parteiamt angekündigt. Gute politische Führung in einer Demokratie bestehe auch darin, sagte die 53-Jährige am Mittwoch in Edinburgh, „beinahe instinktiv zu wissen, wann es genug ist. Ich weiß mit Herz und Verstand, dass dieser Zeitpunkt gekommen ist.“

In ihrer 18-minütigen Ansprache beteuerte die versierte Politikerin immer wieder, ihre Entscheidung habe nichts mit „kurzfristigen Problemen“ zu tun – eine Anspielung auf ein neues Transgender-Gesetz, das seit Wochen kontrovers diskutiert wird. Die konservative Regierung in London hat zum ersten Mal seit Einführung der Regionaladministration 1999 eine Vorlage des Edinburgher Parlaments mit der Begründung blockiert, diese laufe gesamtbritischen Gleichheitsgesetzen zuwider. Was Sturgeon einen „Angriff auf Schottlands Demokratie“ nennt, wird laut Umfragen von der Mehrheit der schottischen Bevölkerung gutgeheißen.

Zur Begründung des Rücktritts beschrieb Sturgeon unsentimental den gewaltigen Druck, der auf den handelnden Personen in einer Demokratie laste. „Es gibt praktisch keine Privatsphäre.“ Die Debatte sei oft brutal und zu sehr auf Personen anstatt auf Sachthemen bezogen. Nach gut acht Amtsjahren seien die Meinungen über sie selbst als Führungsfigur bei Freund und Feind fixiert. Dabei brauche es zur Erreichung der Unabhängigkeit jemanden, der über die bestehenden Fronten hinweg argumentieren könne: „Das schafft eine neue Führung besser.“

Die Glasgower Anwältin kämpft seit ihrem 16. Lebensjahr für das Traumziel aller Nationalisten, zunächst als Aktivistin, von 1999 an im damals neu gegründeten Parlament von Edinburgh. Zehn Jahre lang diente sie als Vizechefin der Partei, sieben Jahre davon auch als Vize-Regierungschefin, ehe sie nach dem verlorengegangenen Unabhängigkeitsreferendum (45:55 Prozent) 2014 das Ruder von ihrem charismatischen Vorgänger Alex Salmond übernahm.

Rückschläge in Frage der Unabhängigkeit

Die Unterhaus-Wahlkampagne im Jahr darauf machte sie schlagartig bekannt, zeitweise war Sturgeon die beliebteste Politikerin im gesamten Königreich. Ein triumphaler Wahlsieg reihte sich an den nächsten. Im Unterhaus halten die Nationalisten derzeit 45 von 59 schottischen Sitzen, bei der jüngsten Regionalwahl 2021 schrammten sie nur knapp an der absoluten Mehrheit vorbei. In der Regierungsarbeit werden sie seither von den Grünen unterstützt.

Sie hinterlasse ein verändertes Schottland, sagte Sturgeon und pries Fortschritte bei der Öffnung universitärer Bildung für sozial Schwache, mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt sowie eine familienfreundliche Politik. Opponenten verwiesen hingegen zuletzt auf weniger positive Veränderungen. So stellt die Zahl der Drogentoten im britischen Norden einen westeuropäischen Rekord dar; das einst hochgerühmte Schulsystem liefert schlechtere Resultate als früher; im Gesundheitssystem NHS knirscht es mindestens ebenso vernehmlich wie in England.

Auch bei der zentralen Frage nach der Unabhängigkeit gab es zuletzt Rückschläge. Sie glaube „fest daran, dass es dafür eine Mehrheit gibt“, beteuerte Sturgeon. Die Umfragen sind sich weniger sicher. Im November hatte der Londoner Supreme Court brüsk das Vorhaben der SNP-Regierung zurückgewiesen, ein neuerliches Unabhängigkeitsreferendum ohne die gesetzlich vorgeschriebene Zustimmung des Unterhauses durchzuführen. Fragen wie die zukünftige Währung eines unabhängigen Landes, die Folgen einer Zollgrenze zum viel größeren englischen Nachbarn und die angestrebte Einbindung in die EU bleiben ungeklärt.

Nachfolge noch nicht klar

Die politischen Gegner gaben sich am Mittwoch artig. Der konservative Premier Rishi Sunak dankte Sturgeon für deren „langen Dienst“. Anders als seine konfrontativen Vorgänger Boris Johnson und Liz Truss hat Sunak stets sein Interesse an vernünftiger Kooperation mit den Regierungen aller Regionen des Vereinigten Königreiches betont. Anerkennung enthielten auch die Worte einer anderen gescheiterten Tory-Regierungschefin: Theresa May dankte der Scheidenden für deren „nimmermüden Einsatz für unser Land“.

In Edinburgh richtete sich der Blick sofort auf die Nachfolge. Im Gespräch sind sowohl Sturgeons Vize-Regierungschef John Swinney (58), der die SNP bereits zu Beginn des Jahrhunderts vier Jahre lang geführt hatte, wie auch Gesundheitsminister Humza Yousaf, 37-jähriger Sohn muslimischer Einwanderer aus Pakistan und Kenia.

Als Favoriten gelten die Finanzministerin Kate Forbes und der Ressortchef für Verfassungsfragen, Angus Robertson, Sohn eines schottischen Vaters und einer deutschen Mutter. Forbes (32) kommt gerade erst aus der Elternzeit und gilt als größtes Nachwuchstalent. Der frühere Journalist Robertson (53) verfügt über große Erfahrung im Unterhaus, wo er zehn Jahre lang seine Fraktion leitete; dem Edinburgher Parlament gehört er seit 2021 an. In jedem Fall, analysiert der Sozialwissenschaftler Jan Eichhorn von der Uni Edinburgh, würden im Nachfolge-Kampf „die internen Gegensätze der SNP deutlicher nach außen treten“. Als sicher gilt auch, dass der SNP-Generalsekretär (chief executive) bald sein Amt räumt: Im Privatleben ist Peter Murrell nämlich Sturgeons Ehemann.