Finanzminister Jeremy Hunt hatte vergangene Woche der eminent wichtigen Finanzindustrie des Landes eine Lockerung der bisher geltenden Regeln versprochen. Dagegen wandte sich nun Zentralbank-Gouverneur Andrew Bailey: „Ich würde nicht sagen, dass wir die Finanzkrise überstanden haben und deshalb keine Regulierung mehr brauchen.“
Hunt hatte vergangene Woche ein Paket von 30 Einzelmaßnahmen vorgestellt und dabei den Brexit als „goldene Chance“ charakterisiert: Durch Großbritanniens Ausscheiden aus der EU könne sich die Insel die Finanzmarkt-Regeln auf den Leib schneidern und dadurch wettbewerbsfähiger werden. Weil die Regierung den schottischen Abspaltungsbemühungen entgegentreten und die Bedeutung anderer Finanzzentren im Land betonen will, wählte der Minister als Schauplatz seiner Rede die schottische Hauptstadt und spricht von den „Edinburgher Reformen“.
Ziel der überarbeiteten Regeln bleibt aber natürlich in allererster Linie die City of London, bei weitem der wichtigste internationale Finanzplatz Europas. Dort haben die Marktteilnehmer im ablaufenden Jahr teils amüsiert, teils fassungslos das politische Chaos in der konservativen Regierung verfolgt. Der Rücktritt von Premier Boris Johnson; die partei-interne Wahl der komplett ungeeigneten, wie eine ökonomische Analphabetin argumentierenden Liz Truss; deren schuldenfinanziertes Steuersenkungspaket mit der resultierenden Vertrauens- und beinahe auch Finanzkrise; schließlich Truss‘ Rücktritt nach 44 Tagen im Amt – da sah das beinahe als langweilig geltende Königreich plötzlich aus wie eine Bananenrepublik, freilich ohne Bananen oder Republikaner. An den Finanzmärkten musste das Land eine „Idioten-Gebühr“ (moron premium) entrichten: Die Zinsen für die als eigentlich sicher gehandelten britischen Bonds schossen in die Höhe.
Die Kür des früheren Finanzministers Rishi Sunak zum dritten Tory-Premier binnen vier Monaten sowie Hunt als Nachfolger im Finanzressort haben Ruhe in die Bond- und Währungsmärkte zurückkehren lassen. Zunächst warfen sie alle geplanten Maßnahmen der Kurzzeit-Premierministerin Truss über Bord, signalisierten mit einem Nachtragshaushalt im November eine Rückkehr zu solider Finanzpolitik.
Regierung versus Finanzaufsicht
Für Erleichterung in der City sorgte auch eine weitere Frontbegradigung der neuen Regierung. Ausdrücklich bekannten sich Sunak und Hunt, anders als ihre Vorgänger, zur Unabhängigkeit der 328 Jahre alten Bank of England (BoE) sowie der beiden Finanz-Aufsichtsbehörden FCA und PRA. Ob dies innerer Überzeugung entsprach oder doch eher dem hohen wirtschaftlichen und politischen Druck geschuldet war, unter dem die seit mehr als zwölf Jahre regierenden Konservativen stehen, blieb offen.
Noch als Finanzminister hatte Premier Sunak nämlich in der ersten Jahreshälfte eine Novellierung der City-Aufsicht ins Rollen gebracht. Die wichtigste Neuerung darin: Die Regierung sollte zukünftig umstrittene Entscheidungen der Aufseher überprüfen und notfalls rückgängig machen können. Dieses Vorhaben stieß vor Ort auf einhelligen Widerstand, wie Lord Mayor Nicholas Lyons – Nummer 694 in dem altehrwürdigen, jährlich wechselnden Amt – sofort nach seinem Amtsantritt im November deutlich machte. Unverblümt meldete sich auch BoE-Vize und PRA-Chef Sam Woods öffentlich zu Wort, was im Dialog zwischen Zentralbank und Regierung eher ungewöhnlich ist: „Es würde unsere Glaubwürdigkeit untergraben, weil es die Finanzregulierung politischer macht.“
Dass Gouverneur Bailey nun die Megaphon-Diplomatie weiterführt, dürfte mit einzelnen Maßnahmen des Edinburgher Reformpakets zu tun haben. Zusätzlich zum bestehenden Stabilitätsziel verpflichtet es die Finanzaufseher auch darauf, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit des Finanzsektors im Auge zu behalten. Erfahrene Regulierer wie Adair Turner, der nach dem Finanzcrash 2007/08 die Vorgängerbehörde FSA leitete, halten vor allem den Fokus auf die Wettbewerber für „einen Fehler“. Unausgesprochen schwingt darin der Verdacht mit, die Regierung wolle waghalsigen Finanzjongleuren größere Freiheiten einräumen und dadurch auf die Insel (zurück-)locken.
Waghalsige Spekulationen
Hingegen beteuert Hunt, er wolle keineswegs Spekulanten die Tür öffnen: Die Lehren aus der Finanzkrise habe er „absolut nicht“ vergessen. Vorgesehen ist eine Lockerung der sogenannten Ringfencing-Regeln, also der firmen-internen Abgrenzung zwischen Investment-Banking und der normalen Geschäftsbank für Kreditnehmer und Sparer: Statt bisher bei 25 Milliarden Pfund soll die Schwelle dafür zukünftig bei 35 Milliarden Pfund liegen. Damit wäre mittelgroßen Finanzunternehmen geholfen, für Großbanken wie Lloyds, HSBC und Barclays bliebe alles beim Alten.
Unterschiedliche Auffassungen haben Regierung und Zentralbank auch bei der Frage, was die Solva II-Regeln der EU ersetzen oder ergänzen soll. Während die Regierung auf freiwerdende Milliarden hofft, die große Pensionsfonds und Versicherungen in dringend nötige Infrastrukturprojekte investieren könnten, sorgen sich die Aufseher um die Finanzstabilität.
Demonstrativ kündigte Gouverneur Bailey am Dienstag den weltweit ersten Stresstest für Finanzmärkte jenseits der Banken an. Die Beinahe-Finanzkrise im September war auch deshalb zustande gekommen, weil die milliardenschweren britischen Pensionsfonds mit waghalsigen Finanzmodellen spekulierten und deshalb kurz vor dem Zusammenbruch standen. Diesen vermied nur eine entschlossene Intervention der Zentralbank.
De Maart
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