Johnson, wirklich?

Dass der Ex-Premier auf ein Comeback hofft, hat er mehrfach öffentlich angedeutet. „Hasta la vista, baby“, lautete sein letzter Satz als Regierungschef im Unterhaus. Vor dem Amtssitz in der Downing Street belehrte der Altphilologe die Nation, er kehre nach getaner Arbeit „an den Pflug zurück“ wie einst der römische Konsul Cincinnatus. Der Clou am historischen Vergleich: Den Staatsmann des fünften Jahrhunderts vor Christus holte der Senat gleich zweimal ins Amt des Diktators der römischen Republik.
Einen deutlich weniger schmeichelhaften Vergleich zieht Rory Stewart. Der frühere Entwicklungshilfeminister, der aus Protest gegen Johnson die Partei verlassen hat, befürchtet das „Borisconi“-Phänomen, zieht also einen Vergleich mit Italiens Mehrfach-Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der mit 86 Jahren noch immer als Putin-Versteher Schlagzeilen macht. Wie Stewart sehen vor allem Liberalkonservative die Diskussion um den Ex-Chef mit Grauen. Sie würden aus Protest gegen den als Lügner und Dilettanten aus dem Amt gejagten Ex-Premier ihre Mandate niederlegen und Nachwahlen erzwingen, gaben die Fraktionsveteranen Roger Gale und John Baron zu Protokoll.
Die Befürworter des Blitz-Comebacks innerhalb und außerhalb der Fraktion verweisen hingegen auf den hohen Wahlsieg von 2019. Damals hatte der einstige Brexit-Vormann ein Wählerbündnis aus konservativen Stammwählern im prosperierenden Süden des Landes und Brexit-begeisterten früheren Labour-Unterstützern in den benachteiligten Regionen in der Mitte und im Norden Englands geschmiedet. Freilich waren seine Zustimmungswerte in der Bevölkerung nach den vielfältigen Enthüllungen um Lockdown-Partys in der Downing Street und dem Strafbefehl durch die Londoner Polizei in den Keller gerutscht. Anders als 2019 stehen die Konservativen nicht mehr einer zerstrittenen Labour-Party unter ihrem damaligen, zur Führung komplett unfähigen Vorsitzenden Jeremy Corbyn gegenüber.
Will der Ex-Premier überhaupt antreten?
Das dürfte davon abhängen, wie stark die Unterstützung übers Wochenende anwächst. Mit der Rückkehr ins Amt nach sieben Wochen würde Johnson jedenfalls sämtliche Rekorde brechen. Dabei hatte er eigentlich verlauten lassen, es sei nun dringend Zeit zum „Heumachen“, vulgo: zum Geld verdienen, schließlich muss der mindestens siebenfache Vater allerlei Mäuler stopfen und die Schulden der vergangenen Jahre abarbeiten. Als Festredner verdient der begnadete Witze-Erzähler gern mal 250.000 Euro pro Abend, längst fällig wäre auch die Fertigstellung einer lang geplanten Shakespeare-Biografie.
Von der Vakanz in der alten Wirkungsstätte hörte der 58-Jährige in einem Karibik-Urlaub – den Fotos der Paparazzi nach zu schließen haben Johnson und seine Frau Carrie samt den gemeinsamen Kindern Wilfred (2) und Romy (zehn Monate) in den vergangenen Monaten viel ausgespannt. Zur Vorsicht mahnt jedenfalls Johnsons Biograf Andrew Gimson: Es sei „viel zu früh“ für eine Rückkehr ins Amt, zu frisch seien die Wunden der Auseinandersetzung, die zu seiner Vertreibung geführt hatten.
Wann stehen die Kandidaten fest?
Um 14 Uhr Ortszeit am Montag müssen die hoffnungsvollen Anwärter nicht nur ihre Bereitschaft erklären, sondern auch 100 Anhänger um sich scharen. Mit diesem hohen Quorum schiebt der zuständige Fraktionsausschuss 1922 allem eitlen Schaulaufen den Riegel vor. Da die Tory-Fraktion derzeit 357 Mitglieder hat, treten also höchstens drei noch am selben Tag zum ersten, die beiden Bestplatzierten später zum zweiten Wahlgang an.
Letzterer aber ist nur ein Hinweis fürs Parteivolk: Dem Statut zufolge müssen nämlich zwei Kandidaten den rund 180.000 Mitgliedern zur Abstimmung vorgelegt werden, diese soll diesmal online erfolgen. Insgeheim hoffen aber viele Torys, dass bei einem einigermaßen klaren Ergebnis diesmal der oder die Unterlegene die Kandidatur zurückzieht. „Es könnte also sein, dass wir bereits am Montagabend wissen, wer neuer Parteivorsitzender und Premierminister ist“, erläuterte Jo Gideon, eine der Organisatorinnen, der BBC.
Wer kommt infrage?

Alle Überlegungen konzentrieren sich auf Abgeordnete, die 2016 den EU-Austritt befürworteten. Ambitionen hegt gewiss Suella Braverman. Ihr Rücktritt als Innenministerin hatte am Mittwoch den Prozess ausgelöst, der tags darauf dazu führte, dass Liz Truss das Handtuch warf.
Rasch aus dem Rennen genommen haben sich frühere Parteigrößen wie der langjährige Minister Michael Gove ebenso wie der seit einer Woche amtierende Finanzminister Jeremy Hunt, der mit harter Hand Truss’ ökonomisches Experiment abgeräumt und damit die Finanzmärkte beruhigt hat.
Wer ist der Favorit?

Eindeutig Sunak. Der 42-Jährige hatte im Juli, als es um die Johnson-Nachfolge ging, deutlich mehr Stimmen seiner Fraktionskollegen erhalten als die damalige Außenministerin Truss. Bei der Urwahl lag Truss dann mit 57:43 Prozent vorn. Dass sie weder den unterlegenen Rivalen noch dessen Gefolgsleute in ihre Regierung aufnahm, stellte sich als Geburtsfehler ihrer kurzen Amtszeit heraus.
Sunak hat eine steile Karriere hinter sich: Erst seit 2015 Parlamentsabgeordneter, diente er seit 2019 im Kabinett und amtierte während der Corona-Pandemie als Schatzkanzler. Seine zunehmende Popularität, geschürt durch gelungene Hilfspakete für Bürger und Unternehmen, brachte ihm zunehmende Feindseligkeit von Johnsons Team ein. Auf deren Konto dürfte gehen, dass im Frühjahr dubiose Steuerdeals von Sunaks Frau, einer Milliarden-Erbin, an die Öffentlichkeit gerieten. Zudem musste der Finanzminister wie auch sein Chef eine Corona-Strafe bezahlen, weil er unverhofft in die (verbotene) Party für Johnsons 56. Geburtstag in der Downing Street geraten war.
Die zahlreichen Sunak-Anhänger in der Fraktion schwärmen von seiner Kompetenz insbesondere in Finanzfragen. Allerdings gibt es auch viele Verächter, die dem kometenartigen Politik-Aufsteiger seinen „Verrat“ an Johnson übelnehmen. Tatsächlich hatte Sunak durch seinen Rücktritt Johnsons Sturz lediglich beschleunigt, nicht aber ausgelöst. Als Flügel-übergreifende Figur der Partei-Einheit taugt er jedenfalls nicht.
Und wer wäre das?

Vielleicht Penny Mordaunt. Die für das Gesetzgebungsprogramm im Unterhaus zuständige Ministerin war bei der Abstimmungsserie im Juli erst im allerletzten Durchgang hinter Sunak und Truss auf Platz drei gelandet. Die 49-Jährige gilt als versierte Debattenrednerin und hat reichlich Regierungserfahrung, allerdings bisher vor allem in der zweiten Reihe. Kurzzeitig diente sie als Ministerin für Entwicklungshilfe, später wenige Monate auch für Verteidigung. Spuren hinterließ sie dabei kaum; im letzten Ringen ums höchste Regierungsamt kamen zudem merkwürdig inhaltsleere Formulierungen aus einem Buch zum Vorschein, das die Abgeordnete für die südenglische Hafenstadt Portsmouth mit einem PR-Experten gemeinsam geschrieben hatte.
Anders als Johnson und Sunak polarisiert Mordaunt nicht, im Gegenteil: Ihre Anhänger betonten am Freitag den Willen der Ministerin, die Vertreter aller wichtigen Parteiströmungen um sich zu versammeln.
Was macht die Opposition?

Sie schaut dem Treiben ohnmächtig zu, wie das Wahlvolk auch. Tosender Beifall begrüßte am Donnerstagabend in der BBC-Diskussionssendung „Question Time“ die Publikumsforderung nach Neuwahlen. Gefordert haben dies auch die Chefs sämtlicher wichtigen Parteien, allen voran Labour-Oppositionsführer Keir Starmer.
Die Chancen auf einen vorgezogenen Urnengang tendieren aber gegen null: Die Konservativen verfügen im Unterhaus noch immer über eine solide Mehrheit, kaum ein Abgeordneter dürfte für den mutmaßlichen Jobverlust stimmen. Die Umfragen prophezeien der Regierungspartei (2019: 43 Prozent) einen Absturz um 20 Punkte, was einen Labour-Erdrutschsieg und den Verlust von bis zu 250 (von derzeit 357) Mandaten zur Folge hätte.
De Maart
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