Nathan heute

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(Tageblatt)

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"Was ist das für ein Gott, der für sich muss kämpfen lassen?", heißt es in "Nathan der Weise".

Wie viele Theaterbühnen in den nächsten Monaten Lessings Aufklärungsklassiker auf die Bühne bringen, ist nicht nur auffallend, sondern auch bezeichnend:
Inmitten der durch unsere Straßen und über Landesgrenzen hinwegfegenden Debatten über Islam, Pegida, Laizität, Freiheit, Respekt und Glauben mutet das Stück beinahe schon erschreckend aktuell an. Ein Lehrstück über Toleranz zwischen den großen Weltreligionen, das gleichzeitig eine Reflexion darüber bietet, was es heißt, politisch zu sein.

Sind die Menschen, die sich in Dresden oder Leipzig versammeln, politisch? Oder jene, die als Charlie zur Bastille laufen? Verdient ein Klick auf Facebook bereits den Namen „politisches Engagement“? Und kommt der Erwerb einer Zeitung dem Kauf einer politischen Kampfausrüstung gleich? Sind all die Menschen auf den Straßen „so politisch wie ein Handtuch“, wie Michel Houellebecq in gewohntem Schnodderton meint? Oder bringt die Energie, die durch Massenversammlungen freigesetzt wird, den Motor des Politischen erst zum Laufen?

Die Lust am Streiten, am Debattieren um eine Sache und die Kunst des Kompromisses sind wohl die wichtigsten Charakteristika des Politischen. Beides erfordert Zeit, viel Zeit und Mühe. Die Bereitschaft, sich zu informieren, zuzuhören und Komplexitäten zuzulassen, ist für politisch denkende und handelnde Menschen unabdingbar. Weder mit einem Marsch noch mit einem Klick ist es da getan. Doch beides kann die Tür zu politischem Engagement aufstoßen. Denn politisch zu sein, heißt, sich die Welt anzueignen und sie für veränderbar zu halten, von unten und in kleinen Schritten. Dazu gehört, es sich niemals leicht zu machen. Deshalb wirken die Ausgrenzung Andersdenkender, die Instrumentalisierung von Ängsten und der Missbrauch von Macht dem Politischen entgegen. Deshalb sind persönlicher Frust und das vage Gefühl, ständig zu kurz zu kommen, gefährliche Brandbeschleuniger im Entpolitisierungsprozess gesellschaftlicher Grundfragen. Deshalb sind Bewegungen wie Pegida das Gegenteil von politischem Engagement.

Was wir brauchen, in unserer neuen Aufklärung, ist eine offene Debatte um Identität. Denn Identitäten sind niemals statisch, sondern immer wandelbar. Im Kontext zunehmender ethnischer und religiöser Vielfalt in Europa ist ein abgrenzender und ausschließender Identitätsbegriff gefährlicher Populismus. Ihn zu verbreiten, ist leicht. Die wahren Probleme der Integrationspolitik zu lösen hingegen eine, wenn nicht die große politische Herausforderung unserer Zeit.

Wahre Toleranz bestünde nicht im Vermeiden von Unterschieden, sondern vielmehr seien gerade „solche Reibungen zwischen den Völkern etwas, was uns stimuliert und weiterbringt“, sagte der Kultursoziologe Richard Sennett gestern in seiner Eröffnungsrede der Lessingtage am Hamburger Thalia-Theater. Und deshalb, schlussfolgert Sennett, brauchen wir „mehr öffentliche Räume, in denen Menschen ihre Verschiedenheit ausleben können“.

Höret hin, wenn der Weise Wahres spricht …