Klangwelten: Von grottenschlecht bis bemerkenswert

Klangwelten: Von grottenschlecht bis bemerkenswert

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Von Jeff Schinker und Tom Haas 

In unserer Rubrik Klangwelten werden regelmäßig Alben rezensiert. Unsere Musikspezialisten haben sich diese Woche die neuesten Alben von Erase Me, Can’t wake up und 30 Seconds to Mars angehört. Ihre Bilanz fällt von grottenschlecht bis bemerkenswert sehr gemischt aus. 

Glaubensverlust

Wenn eine Band sich nach jahrelanger Trennung wieder zusammentut, kann dies schon an eine dieser aufgewärmten Beziehungen erinnern: Außer den Gefühlsnostalgikern glaubt niemand wirklich daran, dass daraus was wird und die verstrichene Zeit hat dafür gesorgt, dass man sich mit dem vergangenen Ich (und dem des Partners) kaum noch identifizieren kann (und möchte). Bei Musikern kennzeichnet sich dies oftmals mit einem Bruch des damals verfolgten ästhetischen Projekts: Die Evolution, die vorher homogen und logisch war, weicht nun einem Neuanfang, bei dem die vergangenen Fehler nochmals begangen, die gewonnenen Erfahrungen nochmals gesammelt werden müssen.

Bei einer rezent wiedervereinten Postcore-Band wie Thrice hat sich dies auf eine gar nicht so üble Art bemerkbar gemacht: Der Bruch mit dem komplexeren Klanggerüst der vorherigen Alben hat zu einem eingängigeren, aber dennoch qualitativ hochwertigen Album geführt. Bei Underoath verhält es sich eigentlich ähnlich, auch wenn das Album Erase Me im Vergleich zu Thrice’s „To be everywhere is to be nowhere“ etwas abfällt.

Ehemalige christliche Postcore-Band

Vor Jahren waren Underoath eine christliche Postcore-Band. Das klingt eigentlich ziemlich abschreckend (wer wissen möchte, was wirklich abschreckend ist, höre sich die rechts auf dieser Seite besprochene Platte an), die Musik der Band verband aber komplexe Hardcoreklänge und -rhythmik mit melancholischen Passagen, die dank des elektronischen Inputs und des Falsettos von Spencer Chamberlain auch manchmal an Radiohead erinnerten. Da viele Textzeilen geschrien wurden, war Underoaths Gott auch für bekennende Atheisten nicht wirklich ein Problem.

Acht Jahre nach dem starken „Disambiguation“ sind Underoath nun mit einer geschliffeneren Songsammlung zurück, die eigentlich das Album darstellt, das man Linkin Park vor Chester Benningtons Freitod noch gewünscht hätte – und das von einer Band in einer Glaubenskrise (oder einer definitiven Glaubensverweigerung) zeugt. Dies merkt man insbesondere an Tracks wie „Wake me“ und „Bloodlust“, die sehr wirksam druckvolle Passagen mit ätherischen Momenten verbinden.

Überhaupt kommen die Songs meist sofort auf den Punkt, die Strukturen folgen verstärkt der klassischen Strophe-Refrain-Zweiteilung, es wird weniger gebrüllt und mehr gesungen. Diese Mischung ist besonders effizient auf „Rapture“ oder „Ihateit“, auf „No Frame“ wird sogar die elektronische Experimentierfreudigkeit von Songs wie „Driftwood“ wieder aufgenommen.

Musikalisch weniger anspruchsvoll

Die neugewonnene Zahmheit und das Popgespür bedeuten aber auch, dass Underoath nun eingängiger, das heißt musikalisch weniger anspruchsvoll daherkommen – als hätte die Band mit dem Glauben an Gott auch den Glauben an musikalische Komplexität verloren. Das ist zwar bedauerlich, nichtsdestotrotz ist die neue Platte der ehemaligen Christen ein (etwas simples) Hörvergnügen – und klingt aufgrund seiner Mischung aus Zugänglichkeit und Härte ein bisschen nach dem, was Jared Leto mit 30 Seconds wohl mit seiner Band hätte schreiben können, wenn er nicht seine Seele der eigenen Sucht nach Anerkennung und Autohagiografie verkauft hätte.

Alice in Texas

Alejando Rose-Garcia alias Shakey Graves ist ohne Zweifel einer der interessantesten Musiker, den die amerikanischen Südstaaten in den vergangenen Jahren hervorgebracht haben. Nachdem der Multiinstrumentalist in seinem bisherigen Werk konsequent die Grenzen von Blues, Folk und Rock’N’Roll auslotete und damit 2015 den „Americana Music Award“ als „Best Emerging Artist“ gewann, webt er auf dem fünften Longplayer Can’t wake up neue Einflüsse in den bestehenden Klangteppich ein.

Der Opener „Counting Sheep“ ist ein Anti-Schlaflied, wiegt den Zuhörer beunruhigend ins Reich der Wachträume und zeichnet den Weg ins Reich der Halluzinationen, die das nachfolgende Album dominieren. Dies ist der Soundtrack für einen Streifzug durch eine Geisterstadt, deren Architekt offenbar Carrolls Hutmacher war. Die angeraute Stimme von Rose-Garcia erhält durch behutsame Verzehrung einen ätherischen Klang und evoziert eine Körperlosigkeit, die über das gesamte Werk hinweg von psychedelischen Gitarrenriffs getragen wird. Es ist schwer, an dieser Stelle Vergleiche zu ziehen– Shakey Graves entzieht sich beständig jeder Kategorisierung und schwebt schwerelos über Dream Pop, Blues und Folk hinweg.

Poetische Legierung

Auch die Lyrik der Lieder ist von außergewöhnlicher Qualität. Virtuos gießt Shakey Graves Versatzstücke klassischer Folklore und Erlebnisse des amerikanischen Alltags zu einer poetischen Legierung, aus der er schließlich Texte schmiedet, die in den Verstand schneiden. Ob es nun scharfsinnige Betrachtungen der verlorenen Jugend („Kids these Days“) oder kryptische Religionskritik („Climb the Cross“) sind, kein Song ist Füllwerk, jedes Lied ist zu einem Motiv verdichtet, das die Platte insgesamt zu einem Meisterwerk vervollständigt.

Daraus ergibt sich die einzige Schwäche von „Can’t wake up“ – es fehlt ein Hit, ein Song, der heraussticht und als emblematisch für das Werk gesehen werden kann. Dem Wert des Werkes tut das keinen Abbruch, allerdings ist „Can’t wake up“ trotz seiner psychedelischen Anleihen zu nahe am Pop, als dass dieser Mangel nicht auffallen würde. Fazit: Ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Album.

In 30 Sekunden im musikalischen Nirgendwo

Einigen Hollywood-Schauspielern reicht die Anerkennung, die man aus Blockbustern ziehen kann, irgendwann nicht mehr. Sie möchten ihr Talent in andere Ausdrucksformen investieren. Ryan Gosling tat das sehr diskret und gründete mit Dead Man’s Bones eine Band, die 2009 ein sehr tolles Album aufnahm, dem unfairerweise sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Jared Leto hingegen hat mit 30 Seconds to Mars eine Zweitkarriere gestartet, mit der er mittlerweile große Konzerthallen weltweit füllt.

Auf den ersten zwei Alben kombinierte seine Band vielversprechend Emo mit The-Cure-Anleihen. Pathosgeladen war das damals zwar auch schon, schlecht aber nicht unbedingt. Seit der dritten Platte scheint es aber, als wollen Letos Genossen Chris Martins Coldplay den Rang als ärgerlichste Band aller Zeiten ablaufen. Auf America, ihrem fünften Album, haben sie’s dann definitiv geschafft. Der Opener „Walk on Water“ gibt einen Elektro-Blues mitsamt Jesus-Komplex, der so abscheulich klingt, dass die paar Depeche-Mode-Reminiszenzen ausreichen müssten, um Dave Gahan und Martin L. Gore zu einer Klage wegen Rufmord zu bewegen.

„I am a Man on Fire“, singt Leto mit der Innbrunst eines untoten Statisten aus „Walking Dead“, bevor es ihm die Luft so sehr nimmt, dass er in dem nächsten Vers von „Dangerous Night“ doch glatt das Verb vergisst: „You – a violent desire“. „Violent“ ist hier aber höchstens, was er dem Zuhörer im danach folgenden klebrigen Refrain antut: „Cross the Line“ reimt hier natürlich auf „We’re running out of Time“, anschließend krächzt Leto mit einer Stimme, die irgendwo zwischen dem schlimmsten von Emo und dem unhörbarsten Autotune liegt, dass es heute eine gefährliche Nacht ist, um sich zu verlieben. Und man kann die Gefahr in der Tat quasi um die Ecke kriechen hören: Sie kommt von den unsäglichen Gang-Vocals, von den langweiligen Beats aus der Dose, von den monotonen, lieblosen Songs, denen jedes Herz und jede Seele fehlen, von den einfallslosen Synthies, die klingen, als würden sie dem Demoprogramm eines Billigkeyboards der 90er entstammen.

Fast eine Beleidigung

Wieso Leto noch eine Band braucht, entzieht sich meinem Verständnis: Die Instrumente wurden fast völlig abgeschafft. Ich verstehe kaum, wieso man sich vor einem Jahr aufregte, dass eine künstliche Intelligenz für Nationalfeiertag einen Song komponieren sollte: Herzloser und maschineller als die neue Platte von 30 Seconds to Mars kann das Resultat auf keinen Fall gewesen sein. Zu Beginn von „Rescue me“ sagt man sich, jemanden möge einen doch vor dieser Platte retten; „Monolith“ ist so schlecht, dass es fast eine Beleidigung ist, dass der Song sich den gleichen Titel mit einem Track aus 65daysofstatics letztem Album „No Mans’s Sky“ teilt; „Love is Madness“ ist so uninspiriert, wie der Name es bereits andeutet.

Denkt man, schlimmer könnte es nicht werden, legt Leto noch einen drauf: „Great Wide Open“ mit seinem „Set me free“-Chorus (ja, bitte, Leto, erlöse uns) ist ein schlecht gemachtes U2-Plagiat, das einem die letzten durchwachsenen U2-Platten plötzlich wieder ganz appetitlich macht.

Kohärent ist das Album allerdings: Jede Komposition ist gleich schlecht. Eigentlich müsste man für das Hören dieser Platte von der Krankenkasse Geld zurückerstattet bekommen. Die Zeit, die einem hier geklaut wird, bekommt man auf jeden Fall nicht zurück. Und da wir sterbliche, vergängliche Kreaturen sind und Zeit unsere einzige existenzielle Währung darstellt, ist dies schon fast ein bisschen tragisch.