Dunkelheit über Europa

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Daniel Kehlmann legt wieder einen Historienroman vor. In „Tyll“ geht es um den erbarmungslosen Dreißigjährigen Krieg, aufbereitet als Sittengemälde. So wird Historisches für Heutige erlebbar, der Roman ist auch unterhaltsam.

Von Roland Mischke

Inquisitoren sind in der frühen Neuzeit unterwegs im Lande, getarnt als freundliche Leute, die gern mit anderen reden. So mit Tyll, Müller in einem kleinen Dorf, der nicht nur Mehl im Kopf hat, sondern auch Alchemie, Kräuterheilkunde, Buchstabenmagie. Im Ort gilt er als Wunderheiler, und deshalb interessieren sich die beiden Jesuiten für ihn. Sie verwickeln ihn in ein Gespräch, der Müller plaudert drauflos – und ahnt nicht mal, dass er sich ins Unglück katapultiert.

Die Müllerin erfasst instinktiv, dass etwas nicht stimmt. Sie will den Gatten zurückhalten, nennt ihn „Trottel“. Zu spät, ein Prozess wird anberaumt. Frau und Sohn des Müllers werden gezwungen, gegen den Vater auszusagen, tun sie es nicht, würden sie einen Kopf kürzer gemacht. Also schieben sie alles auf den Müller, der bald in die Grube fährt.

Tyll, wie auch der Sohn heißt, kann mit dem Vaterverrat nur fertig werden, indem er läuft und läuft – er führt die Leser durch den Roman, die grausame Periode des Dreißigjährigen Krieges, das wüste Verrohen der Menschen und sinnlose Niedermetzeln. Nele, die Nachbarstochter, flieht mit ihm, als er in Verdacht gerät, ein Teufelsbündler zu sein, was unter der Folter geklärt werden soll. Doch beide junge Menschen werden kein Paar, denn Tyll wird in einer Nacht von marodierenden Soldaten entmannt.

Zuflucht im Gauklerleben

Dieses Trauma wendet er in ein Gauklerleben. Der Hochbegabte tanzt zur Gaudi der Zuschauer auf einem Seil vom Kirchturm zur Fahnenstange, er reißt Witze und weil er so possenreich ist, schafft er es sogar in die höfische Welt und die Adelsdiplomatie. Tyll geht auf Tyll Ulenspiegel zurück, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts lebte.
Daniel Kehlmann, 42, versetzt ihn einfach in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648. Er braucht den Mann, hochdeutsch Till Eulenspiegel, um das Grauen nicht ins Unermessliche steigen zu lassen. Daniel Kehlmann ist zurück in seinem Metier, dem Historienroman, mit „Die Vermessung der Welt“ (2005) hatte er für Furore gesorgt, als er von Humboldt und Gauß erzählte.

1619 wurde Friedrich, Kurfürst von Heidelberg, zum König von Böhmen gekrönt. Er ist mit Liz, der Tochter des englischen Königs, verehelicht. Böhmen wird vom Herrschaftsbereich der Habsburger abgetrennt, Friedrich spürt den Druck der Protestantischen Union – und damit bringt er eine Katastrophe über den Kontinent. Protestanten standen plötzlich gegen Katholiken, der Religionskrieg wurde vom Fundamentalismus ausgelöst. 30 Jahre später lebte in Teilen Europas nur noch ein Drittel der Bewohner, ganze Generationen waren traumatisiert. Auch König Friedrich konnte sich nur ein Jahr als Herrscher der Böhmen halten, dann wurde der König ohne Reich und Volk als vogelfrei erklärt.

Wenn es eng wird, gehe ich

Kehlmann greift tief in die Ereigniswelt jener Zeit. Neben rivalisierenden Herrschern, dem Grauen der Schlachtfelder, Hexenjagden, religionspolitischen Wirren und der Verheerung der Städte und Dörfer schiebt er Anekdoten ein. In der Sprache von heute geschrieben, als Unterhaltung. Gustav Adolf von Schweden sagt zum abgetakelten Friedrich: „Ich pfeif dir gleich eine.“ Vor allem Tyll ist einer, der als Schelm nicht unterzukriegen ist. In einer Kriegsschlacht muss er als Mineur dienen, wird mit Kameraden verschüttet, lässt noch mal seine Biografie Revue passieren und entschließt dann: „Ich geh jetzt. So hab ich’s immer gehalten. Wenn es eng wird, gehe ich. Ich sterbe hier nicht.“
So wird Historisches für Heutige erlebbar, der Roman ist auch unterhaltsam. Und trotzdem wissen wir als Leser am Ende mehr von der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, die sämtliche Gewalten entfesselte.

Daniel Kehlmann: „Tyll“. Rowohlt, Reinbek, 480 S., 22,95 €