Unsichtbares Defizit: Wenn Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben können

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In Luxemburg gibt es ungeahnt viele Menschen, die über unzureichende Lese- und Schreibkompetenzen verfügen. Ihr Defizit fällt oft über Jahre hinweg nicht auf. Die Ursachen, warum Erwachsene Probleme beim Lesen und Schreiben haben, sind genauso unterschiedlich wie die Betroffenen selbst. Gerade in der heutigen Zeit, in der die sozialen Medien und das Schreiben von E-Mails zum Alltag gehören, wird dieses Wissen immer wichtiger.

Valentina ist 46 und lernt gerade lesen und schreiben. Seit Mitte 2018 besucht sie die Ateliers der „Formation de base“ in Differdingen. Wegen eines neuen Arbeitsplatzes hat sie sich entschlossen, etwas an ihrer Situation zu ändern. In ihrem Job muss sie schriftlich dokumentieren, was sie genau an dem Tag gemacht hat, wann sie angefangen hat, zu welcher Uhrzeit sie aufgehört hat. Damit hat sie Probleme. Die Buchstaben kennt sie zwar, doch schreiben kann sie nicht. Heute bereitet es ihr Schwierigkeiten, einen Brief zu lesen. „Ich verstehe die Hälfte nicht“, gibt Valentina etwas frustriert zu.

Die 46-Jährige wurde auf den Kapverden geboren und hat bis zum jungen Erwachsenenalter in mehreren Ländern gelebt: Vom Atlantischen Ozean ist sie nach Portugal gezogen, als sie drei Jahre alt war. Von da aus ging es in die Niederlande – und schließlich nach Luxemburg. „Bevor ich mich anpassen konnte, war ich schon wieder weg“, erzählt Valentina. Deswegen hat sie nie richtig schreiben gelernt. Sie könne viele Sprachen, aber nicht lesen und schreiben, gesteht sie. Mit der Schule hat sie relativ früh aufgehört. Dort hat sie immer alles eins zu eins abgeschrieben, was auf der Tafel oder im Buch stand. Das sei nie jemandem aufgefallen.

Die Tür steht immer offen

Menschen, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben und dies ändern wollen, können sich jederzeit beim „Service de la formation des adultes“ melden (Telefonnummer 8002 4488). Einschreibungen erfolgen das ganze Jahr über. Das Kursangebot ist kostenfrei. Weitere Infos und die Kursstandorte sind unter www.abcd.lu zu finden.

Eine Motivation sind auch Valentinas Kinder, denen sie helfen möchte. Wenigstens können ihre Kinder lesen und schreiben. Da Valentina alleinerziehend ist, schafft sie es nicht immer, an den Kursen teilzunehmen, die sie nach der Arbeit absolviert. Diese „Formation de base“ findet zweimal die Woche statt. Montags dauern diese Kurse eine Stunde und mittwochs zwei. Danielle Rieff gibt diese Kurse in Differdingen und leitet sie seit drei Jahren. „In ihrer schulischen Laufbahn haben die Teilnehmer einiges erlebt und mitgemacht. Ich muss dann herausfinden, was wann schiefgelaufen ist“, sagt Rieff. Die Ateliers sind für funktionale Analphabeten gedacht, das heißt, die Betroffenen haben irgendwann schon einmal mit Lesen und Schreiben in ihrem Leben zu tun gehabt. Sie konnten es nur nie gut genug oder nicht mehr gut genug, um im Alltag klarzukommen. Es sei wichtig, auf die einzelnen Bedürfnisse der Teilnehmer einzugehen. Es werde versucht, allen gerecht zu werden, wenn dies auch nicht immer bis ins letzte Detail möglich ist. Viele kämen mit Ängsten zu den Kursen.

Rentner François (Fränz) Schneiders hat laut eigenen Aussagen nie verheimlicht, dass er nicht richtig lesen und schreiben kann. Im Laufe der Jahre habe er gemerkt, dass er vieles von dem, was er in der Schule gelernt hat, eigentlich nie brauchte. Wenn es mal nützlich gewesen wäre, sei ihm bewusst geworden, dass er vieles nicht mehr wusste. „Bei meiner Arbeit hatte ich nie etwas mit Schreibkram zu tun“, gesteht der 59-Jährige. Das sei alles schon fertig gewesen. Höchstens die Adresse habe er lesen müssen. Jetzt, da er seit einiger Zeit Rentner ist, wollte er einen nützlichen Zeitvertreib haben. Deshalb hat er sich eingeschrieben und ist seit September 2018 dabei.

Eine neue Lebensphase

In Luxemburg gibt es eigentlich niemanden mehr, der nie lesen und schreiben gelernt hat. Da es die Schulpflicht gibt, könne zumindest jeder ein Minimum und die meisten ihren Namen schreiben, erklärt eine weitere „Formatrice“, Geneviève Jadoul, die seit 13 Jahren mit Erwachsenen arbeitet, im Gespräch mit dem Tageblatt. Auch von Dyslexie betroffene Menschen fallen oft durch das Raster. Dabei ist Dyslexie eine Lesestörung, eine Schwäche, bei der die Fähigkeit, zusammenhängende Texte zu verstehen, gemindert ist.

Zu den Ursachen, warum jemand in dieser Hinsicht nicht über die Basisbildung hinauskommt, zählt Jadoul, dass diejenigen in der Schule oft schlechte Erfahrungen gemacht haben. Sie seien von Jahr zu Jahr mitgeschleppt worden und dann mit 15 von der Schule abgegangen. „Viele sind vor dem ersten Kurs richtig aufgeregt. Wir müssen ihnen zeigen, dass sie keine Angst haben müssen, dass es nicht mehr so ist wie früher und individuell nach ihnen geschaut wird“, erklärt Jadoul. Dann würden sie sich sogar auf den nächsten Kurs freuen.

Der Grund, warum sich ein Mensch – oft nach langer Geheimhaltung – dazu entschließt, etwas an seiner Situation zu ändern, führt Jadoul auf eine neue Lebensphase zurück. Oft sei es wegen der Arbeit, nach einer Beförderung, die beispielsweise beinhaltet, Formulare auszufüllen. Bei anderen sei es so, dass sie verlassen worden seien und der Partner alles übernommen habe, was das Lesen und Schreiben anbelangt. Eine weitere große Motivation seien die Kinder, denen die Eltern bei den Hausaufgaben helfen wollen. Doch es gebe sicherlich viele, die sich nie helfen lassen werden. Da macht sich die studierte Logopädin keine Illusionen. Die Teilnahmedauer an den Kursen ist auch ganz unterschiedlich. Manche kämen nur für ein paar Monate, andere einige Jahre. „Manchmal ist einer dabei, der etwas bei mir lernt und wieder in die weite Welt hinausgeht.“ Das sei ein sehr schönes Gefühl.

Eine zusätzliche Hürde beim Lernen stellt die Luxemburger Sprachsituation dar. Viele besuchen die Ateliers und lernen etwas Deutsch oder Französisch und könnten es nicht sofort anwenden. „Wenn sie im Alltag etwas lesen, wissen sie nicht, ob es auf Deutsch oder auf Französisch geschrieben ist“, erklärt Jadoul. Sie könnten nicht ausmachen, ob sie es nicht lesen können, weil sie es noch nicht gelernt haben oder weil es die falsche Sprache sei. Aus diesem Grund sei es auch für Asylsuchende schwierig, hierzulande sprachlich Fuß zu fassen. Aufgrund dieser Sprachsituation gebe es für das Lehrpersonal keine einheitlichen Aus- und Fortbildungen.

Ein weiterer Impuls für die Betroffenen, um etwas gegen ihre aktuelle Situation zu unternehmen, sei der alltägliche Gebrauch des Smartphones. Als es vor ein paar Jahren üblich war, hauptsächlich SMS zu schreiben, sei die Lage noch eine andere gewesen. Heute würde wieder vermehrt auf Sprachnachrichten zurückgegriffen. „Ich bestehe darauf, dass meine Schüler mir schriftlich mitteilen, wenn sie mal nicht kommen können.“ Und wenn es nur ein Wort sei.


Die Situation in Deutschland

Für Luxemburg existieren keine genauen Zahlen darüber, wie viele Menschen momentan von Illettrismus betroffen sind. Hier wird sich am Ausland orientiert.
In Deutschland haben, nach einer vom Bundesbildungsministerium geförderten Studie, die am letzten Dienstag veröffentlicht wurde, über sechs Millionen Erwachsene Schwierigkeiten, deutsche Texte zu lesen und zu schreiben.

Wie Die Zeit schreibt, mache dies einen Prozentsatz von 7,3 Prozent der Bevölkerung aus.
Mehr als die Hälfte der Betroffenen seien deutsche Muttersprachler. 62,3 Prozent sind trotz allem erwerbstätig. Jeder Fünfte hat keinen Schulabschluss, 40 Prozent verfügen zwar über einen Schulabschluss, allerdings auf niedriger Stufe, so Die Zeit weiter.


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