Spanische Qualen der Wahlen: Es ist bereits der zweite Versuch in diesem Jahr, eine Regierung zu finden

Spanische Qualen der Wahlen: Es ist bereits der zweite Versuch in diesem Jahr, eine Regierung zu finden
Pablo Casado, Pedro Sanchez, Santiago Abascal, Pablo Iglesias und Albert Rivera vor der TV-Debatte.  Foto: Ricardo Rubio/Europa Press/dpa

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Die Spanier wählen am Sonntag zum vierten Mal in vier Jahren ein neues Parlament – und bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr. Dabei sah es nach den vorgezogenen Neuwahlen vom vergangenen April erst so aus, als könne die Koalition, bestehend aus der sozialistischen PSOE, der linken Podemos sowie jeweils zwei kleineren katalanischen und baskischen Regionalparteien, weitermachen. Doch es sollte nicht dazu kommen.

Wieso das so ist, beleuchten die beiden Politologen José Fernández-Albertos und Steven Forti im Gespräch mit dem Tageblatt. Um etwas Licht ins Dickicht der spanischen Politik zu bringen, werden erst die wichtigsten Parteien, ihre Positionen, Ambitionen und Schwierigkeiten vorgestellt. Ein besonderes Augenmerk gilt auch der Lage in Katalonien, die zu einer Polarisierung nicht nur der spanischen Politik, sondern auch der Gesellschaft geführt hat (auf Seite 6). Letztendlich stellt sich erneut die Frage, wie es nach der Wahl weitergehen wird. Die Aussichten sind eher trübe, eine stabile Mehrheit deutet sich auch bei der Wahl vom Sonntag nicht an.

Partido Socialista Obrero Español:
Der Favorit, der sich verrechnet hat

Ministerpräsident Pedro Sánchez kam am 1. Juni 2018 an die Macht. Der PSOE-Chef löste Mariano Rajoy (PP) ab, gegen dessen Partei er wegen jahrelanger verdeckter Parteifinanzierung einen Misstrauensantrag erfolgreich durchgebracht hatte. Die PSOE koalierte ab Juni 2018 mit Unidos Podemos, den katalanisch-separatistischen Parteien ERC und PDeCat und den baskischen Parteien PNV und EH. Die Koalition hielt aber nur bis Februar 2019, Sánchez hatte seinen Haushaltsentwurf im Parlament nicht durchgebracht, was Neuwahlen nötig machte. Diese fanden im vergangenen April statt – und bescherten den Sozialisten ein Traumergebnis. Die PSOE kam auf knapp 29 Prozent und lag damit mehr als zehn Prozentpunkte vor dem Zweitplatzierten, der konservativen PP. Eine Erneuerung des vorherigen Bündnisses wäre möglich gewesen, die Basken machten keine Probleme und auch die katalanischen Regionalparteien hätten sich gefügt.

Der Knackpunkt lag demnach, schlussfolgert Politologe José Fernández, bei PSOE und Podemos. Obwohl beide Parteien ein gemeinsames politisches Projekt hatten, dieselben Ideen verfolgten, fanden sie nicht mehr zusammen. Ein Grund waren, so Fernández, die Wahlen im Mai, als nicht nur das Europaparlament neu zusammengestellt wurde, sondern in Spanien auch Regional- und Lokalwahlen waren. Die PSOE wurde hierbei gestärkt, Podemos verlor aber an Macht, die sie 2015 gewonnen hatte, flog so zum Beispiel aus dem Madrider Rathaus.

Trotzdem, sagt Fernández, habe viel gegen Neuwahlen gesprochen. Vor allem, da es für Sánchez gereicht hätte, und „wer in Spanien erst einmal Ministerpräsident ist, sitzt eigentlich fest im Sattel“. Mit den April-Ergebnissen wäre keine parlamentarische Mehrheit denkbar gewesen, die Sánchez wieder hätte entmachten können.

Doch die PSOE sei offensichtlich genervt gewesen von den Wünschen von Podemos, die wichtige Ministerposten für sich reklamierte. Dazu war die Gefahr, die Ciudadanos (die stark verloren hatte) zuvor für die PSOE darstellte, wie weggeblasen. Mehr noch, sagt Fernández: Sánchez und die Parteiführung fanden plötzlich Gefallen an der Idee, Ciudadanos noch mehr Stimmen abzujagen, indem die Sozialisten zentristischer auftreten würden. Das Ziel war demnach, die große unangefochtene Partei der Mitte zu werden – und dann nicht mehr auf die Linken und vor allem nicht mehr auf die Katalanen angewiesen zu sein.

Die PSOE steckt Fernández zufolge bereits länger in diesem Dilemma fest: Während die Basis eine Koalition anstrebt, würde die Parteiführung am liebsten nicht auf Podemos und – wegen der aufgeheizten Stimmung – vor allem nicht auf die katalanischen Parteien zurückgreifen. Doch die Wähler lehnen sich besonders gegen eine Konstellation auf: eine Regierungsbildung zusammen mit Ciudadanos. Fernández bringt das Problem auf den Punkt: „Die Führung hätte gerne die Stimmen derer, die für eine Koalition mit Podemos sind – regieren würde sie aber lieber mit Ciudadanos.

Partido Popular:
Die Konservativen mit Rückenwind

Nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen die PP musste sich die Partei neu aufstellen. Ex-Premier Mariano Rajoy zog sich aus der Politik zurück, sein Nachfolger wurde Pablo Casado. Das führte auch zu einer anders gelagerten politischen Ausrichtung. Während Rajoys PP, so erklärt es Fernandez, noch eher unideologisch und klassisch christlich-sozial geprägt war, nahm die Partei unter Casado eine neoliberale Note in ihr Programm auf. Das habe sich nach dem schlechten Wahlergebnis vom April aber wieder gedreht, so Fernández, der jetzt eine PP sieht, die wieder mehr der alten unter Rajoy ähnelt.

Den Umfragen zufolge hat sich die Wende gelohnt, die PP steht jetzt besser da. Fernández führt das auch auf das staatsmännischer gewordene Auftreten von Casado zurück, welches bei den PP-Wählern, denen Stabilität das Wichtigste sei, offenbar gut ankommt. Dazu sei die Wahlkampagne der PP „sehr smart“ gewesen, habe offensichtlich den richtigen Nerv getroffen – vor allem, indem die Partei weniger polarisierend aufgetreten sei als noch zu Beginn des Jahres.

Aber wie bei der PSOE ist auch bei der PP das Zwischenhoch nicht nur hausgemacht, sondern Folge der Schwäche von Ciudadanos. Ciudadanos konnte ihren Aufstieg vor allem frustrierten PP-Wählern verdanken, die das Lager gewechselt hatten. Das unterstreiche, sagt Fernández, dass es „keine ideologische Distanz zwischen beiden Wählergruppen“ gibt. „Zurück zur PP, das fällt keinem schwer, sobald Ciudadanos nicht mehr wirklich als tragfähige Option erscheint.“

Fernández sieht die PP demnach wieder in einer guten Ausgangslage – die sie sogar dazu verführen könnte, per Enthaltung Sanchez erneut zum Ministerpräsidenten zu machen. Sollte die PP erkennen, dass die Besetzung der politischen Mitte und ein staatsmännischeres Auftreten Erfolg versprechen – und das könnte die Botschaft bei den kommenden Wahlen sein –, falle es ihr vielleicht gar nicht so schwer, das zu tun, was die Sozialisten bereits 2016 getan hatten, die damals Rajoy per Enthaltung an die Macht verhalfen.

„Dann stünden sie als Stimme der Vernunft da“, sagt Fernández, „denn keiner will bald das fünfte Mal wählen gehen, die Spanier wollen eine Regierung haben“. Ein solcher Schritt ließe sich Fernández zufolge verkaufen. Denn so hätte die PP dabei mitgeholfen, dass die PSOE nicht wieder mit den Katalanen zusammenarbeiten müsse, um regieren zu können.
Dann könnte die PP die PSOE erst einmal regieren lassen und ihr dabei zuschauen – „und nach zwei Jahren kommt es vielleicht wieder zu Neuwahlen und dann ist die PP in einer hervorragenden Position“. Für Fernández ist dies der wahrscheinlichste Weg für die PP und „gar keine so schlechte Strategie, vor allem wenn du die Gefahr losgeworden bist, die Ciudadanos und Vox bei vorherigen Wahlen noch darstellten“.

Vox: Die Rechten, die von Katalonien profitieren

Die Partei Vox steht rechts von Ciudadanos und PP. Bei der Andalusien-Wahl im Jahr 2018 machte sie zum ersten Mal europaweit von sich reden. Spanien, das bislang von rechtspopulistischen Auswüchsen verschont geblieben war, hatte plötzlich seine Rechtsaußen-Partei.
Doch Vox sei kaum mit Parteien wie der AfD, der Lega, der FPÖ oder dem Rassemblement National vergleichbar, sagt Fernández. Der Daseinsgrund der Vox sei vor allem die Katalonien-Krise. Zu einem Zeitpunkt, da die PP auf nationaler Ebene nicht mehr konkurrenzfähig erschien, sei die Vox vorgeprescht.

Ihr Spitzenkandidat Santiago Abascal ist auch ehemaliges PP-Mitglied. Und fast alle Vox-Wähler sind ehemalige PP-Wähler, sagt Fernández. Viele rechte Wähler, denen Spanien „sehr am Herzen lag“ und die immer PP gewählt haben, entschieden sich während der Schwächephase der PP demnach dazu, die noch härtere Gangart gegenüber Katalonien zu wählen. Klassisch rechte Themen wie etwa die Einwanderung spielten bei Vox eine untergeordnete Rolle. In Spanien gibt es derzeit viele Diskussionen rund um unbegleitete Jugendliche in Großstädten, da schlage Vox ein wenig Radau. Aber sonst? „Klar haben sie ihre Meinung, wenn du sie fragst“, sagt Fernández. „Aber sobald du Vox das Gesprächsthema aussuchen lässt, wird es Katalonien sein.“

Ciudadanos: Die Liberalen, die immer rechter werden

Die Besonderheit der spanischen Politiklandschaft lässt sich auch daran erkennen, dass nach der Wahl im April eine Koalition aus PSOE und Ciudadanos (Cs) möglich gewesen wäre, es aber nicht dazu kam – während in jedem anderen EU-Staat eine sozialdemokratische und eine liberale Partei fast problemlos miteinander hätten regieren können, ist das in Spanien nicht der Fall. Fernández sieht hierfür mehrere Gründe. Erstens ist Cs die PSOE vor und auch nach den Wahlen vom April sehr hart angegangen, was für eventuelle Koalitionsgespräche nie der beste Einstieg ist. Und es war der immer gleiche Vorwurf, die PSOE sei zu nachgiebig gegenüber den katalanischen Nationalisten.

„Ciudadanos hat das Ziel verfolgt, auf Kosten der PP zweitstärkste Partei zu werden“, sagt Fernández, „und das ging nur, indem die Partei sich in der Katalonien-Frage sehr weit rechts positionierte und dieses Thema über alles stellte.“ Ein Schuss, der nach hinten losgehen sollte. Bei der April-Wahl gelang Cs tatsächlich fast der Sprung auf den zweiten Platz. Mittlerweile ist die Partei von Super-Ego Albert Rivera der große Verlierer der letzten Monate.

Letzten Umfragen zufolge liegt Ciudadanos am Boden und könnte nur noch fünftstärkste Kraft werden. Wie konnte es dazu kommen – immerhin liebäugelte Albert Rivera noch vor kurzem damit, der größte Player in der Mitte von Spaniens politischer Landschaft zu werden?

„Zu Beginn verkörperte Ciudadanos das Gefühl, endlich diese eine Lücke in Spaniens Politik auszufüllen und die wirkliche zentristische, liberale Partei zu werden, die das Land bislang nicht hatte“, erklärt Fernández. „Hörte man ihnen aber zu, redeten sie immer nur über Katalonien.“ Diese Agenda habe mit der Zeit die generellen, liberalen Debatten vollkommen ersetzt.

„Es ging nicht mehr um Reformen oder darum, links und rechts einander anzunähern, um den Wechsel durchzubringen, den die spanische Wirtschaft braucht – es ging nur noch darum, möglichst hart gegenüber Katalonien aufzutreten.“ Diese Polarisierung hat Fernandez zufolge einen Teil der Ciudadanos-Wähler frustriert. Also gingen diese zurück zu den Sozialisten. Oder vermehrt noch zu den Konservativen.

Die seien, so Fernández, „immerhin das Original, wenn es darum geht, den harten Mann gegenüber den Katalanen zu markieren und zu sagen, die PSOE sei anti-spanisch, wenn sie mit den Katalanen gemeinsame Sache macht“. Was zur Folge habe, dass die Wähler nicht mehr gewusst hätten, wieso sie ihre Stimme Ciudadanos geben sollten, die keine klare, eigene Botschaft mehr gehabt hätte. Die Spanier würden sich fragen, was Ciudadanos überhaupt will: „Wenn du nicht die stärkste Partei rechts der Mitte werden kannst, aber auch nicht koalieren willst – was willst du dann?“

Unidos Podemos: Die Linken, die ein bisschen Angst haben

Eigentlich hätte Podemos wieder zusammen mit der PSOE regieren können. Das Wahlergebnis erlaubte dies, die Basis wollte es. Doch auch auf Podemos-Seite seien Fehler gemacht worden, sagt Fernández.
Erstens sei der Anspruch auf den Posten des Vizepräsidenten (den Podemos-Chef Pablo Iglesias später wieder fallen ließ) ein sehr hoher gewesen. Zweitens sei es, so Fernández, „nicht sehr schlau, laut zu sagen, man wolle wichtige Ministerposten vor allem deswegen, weil man der PSOE nicht trauen könne“. Das schaffe „nicht das beste Gesprächsklima“. Und auch für Podemos mündeten die Lokal- und Regionalwahlen vom vergangenen Mai in einer großen Enttäuschung. Die Partei verlor große Teile ihres Machteinflusses, den sie erst 2015 gewonnen hatte.

Besonders in Madrid, aber auch in Saragossa und Barcelona gab es heftige Verluste. Vor allem Madrid ließ die Alarmglocken bei Podemos läuten – dort lief ihr mit der neu formierten Más País eine grüne Abspaltung der eigenen Partei mir nichts, dir nichts den Rang ab. Auch das könnte Fernández zufolge bei Podemos der Lust auf Neuwahlen Antrieb gegeben haben. „Podemos sieht in der schnell erstarkenden Más País klar eine Gefahr für die eigene Zukunft“, sagt Fernández, da könne die Führungsebene von Podemos schon mal auf den Gedanken kommen, es wäre besser, bald wählen zu lassen als vielleicht in zwei Jahren, wenn die Abtrünnigen noch stärker geworden sind. Da Más País als junge Bewegung bei den jetzigen Wahlen nicht überall antritt, werden ihr nur wenige Sitze im spanischen Parlament zugetraut.

Mehr als Katalonien:
Was sonst noch wichtig ist

Die Katalonien-Frage für beide Seiten tragbar zu lösen, ist zweifelsohne eine Herausforderung historischen Ausmaßes für Spanien. Nur sieht es aus der Distanz heraus oft so aus, als wäre Katalonien alles, was die Spanier beschäftigt – dem ist aber nicht so. Was aber ist: Die Polarisierung, die sich aufgrund der Katalonien-Frage tief in die spanische Gesellschaft hineingegraben hat, wirkt sich auch auf andere Themen aus. Arbeitsmarkt, Renten, Mieten, Klima – all das seien wichtige Punkte und über all das werde erbitterter gestritten als üblich, sagt Fernández.

Ein Problem, das wirklich auf den Spaniern lastet, ist der zweigeteilte Arbeitsmarkt. In Spanien stecken etwa 30 Prozent der Erwerbstätigen in Zeitarbeitsverträgen. Das bedeutet erstens dauernde Unsicherheit und meistens eine schlechtere Bezahlung. Verschlimmert wird die Situation dadurch, dass diese Menschen einen schlechteren Zugang zu vielen staatlichen Leistungen haben. So entwickelten sich am Arbeitsmarkt Parallelgesellschaften zwischen Besser- und Schlechtergestellten.

Ein wichtiger Aspekt am Sonntag wird die Wahlbeteiligung sein. Allgemein erwartet wird, dass weniger Wähler sich an die Urnen begeben werden, als das im April der Fall war (knapp 72 Prozent). Ist dies der Fall, werde das wahrscheinlich die rechten Parteien stärken, deren Wählerschaft loyaler sei, sagt Fernández. Zudem seien besonders linke Wähler genervt davon, dass es zu keiner Koalition nach den April-Wahlen gekommen ist. „Diese neue Runde an Taktiererei und kurzfristigem Denken und dem Rechnen, ob ich bei einer Neuwahl hier oder dort Stimmen hinzugewinnen kann, hat die Distanz der Wähler zum politischen System vergrößert“, sagt Fernández.

Fernández und Forti unterstreichen beide einen Unterschied Spaniens zu den meisten anderen EU-Staaten. Trotz des Aufstiegs linker Anti-Establishment-Parteien und extrem rechter Populisten genieße die Europäische Union weiterhin ein hohes Ansehen. Europaskepsis gebe es kaum. Auch das politische System in Spanien sei mit dem Aufstieg der eher neuen Parteien wie Ciudadanos, Podemos oder auch Vox europäischer geworden, da es ein breiteres politisches Spektrum abdecke. Zudem werde dem Thema Klima mittlerweile viel mehr Raum zugestanden als gewohnt. Der Rückhalt für eine weitere europäische Integration bleibe groß – und das sogar in den Parteien an den extremen Rändern, die in den vergangenen Jahren entstanden sind.