Noah Klieger, dienstältester Zeitungs-Redakteur und letzter Boxer von Auschwitz, ist tot

Noah Klieger, dienstältester Zeitungs-Redakteur und letzter Boxer von Auschwitz, ist tot

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Im Mai 2018 haben wir zum letzten Mal zusammengesessen. In Brüssel, in der Lounge des „Hôtel Le Plaza“ am Boulevard Adolphe Max. Noah Klieger war an den Rollstuhl gefesselt, seit fast drei Jahren wollten die Beine nicht mehr, doch dafür war der Geist wach wie eh und je. Vier Stunden lang erzählte mir Noah aus seinem Leben, Geschichten, die ich zum Teil aus früheren Begegnungen schon kannte, Episoden aus einer Fülle von schrecklichen Ereignissen und sonderbaren Zufällen, die der dienstälteste Zeitungsredakteur der Welt (92) auf seiner bisweilen verrückten Reise durch die Jahrzehnte erlebt hatte.

Von Petz Lahure

Am Ende gelobten wir, wie bisher per E-Mail miteinander in Kontakt zu bleiben und uns spätestens im Januar 2019 beim Kongress des Internationalen Sportpresseverbandes (AIPS) wieder zu begegnen, vielleicht schon früher, man müsse halt abwarten, was die Zukunft so bringe. Zu diesem Treffen wird es nicht kommen. Genauso wenig wie zu der Konferenz, die ich für das Jahr 2019 mit Noah Klieger in Luxemburg geplant hatte, wo er u.a. von dem Grauen in den Todeslagern der SS, aber auch von andern skurrilen Ereignissen auf seinem langen Leidensweg in Auschwitz, Dora-Mittelbau und Ravensbrück berichten sollte.

NOAH KLIEGER

Der Holocaust-Überlebende und israelische Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees ist im Alter von 92 Jahren in Israel gestorben. Er wurde 1926 in Straßburg geboren.

Als Mitglied einer jüdischen Untergrundorganisation wurde er im Alter von 16 Jahren in Belgien verhaftet und 1943 nach Auschwitz deportiert. Er überlebte Auschwitz auch, weil er sich zu Boxkämpfen meldete, die der Lagerkommandant zur Unterhaltung der SS-Wachmannschaften zwischen Häftlingen austragen ließ. 1945 trieb ihn die SS auf einem Todesmarsch bis nach Ravensbrück, wo er am 29. April 1945 befreit wurde.

Klieger arbeitete später in Israel als Journalist. Er berichtete unter anderem schwerpunktmäßig über Basketball, aber auch über Prozesse gegen SS-Täter. Im Januar 2017 hat er zusammen mit seinem Enkel Juval zum Internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocausts vor den Vereinten Nationen in New York gesprochen. (dpa)

Klieger war nicht nur einer der wenigen Zeitzeugen von damals, sondern auch der letzte Überlebende des 1947 von der zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation „Hagana“ gekauften amerikanischen Schiffes „President Harfield“, das unter dem Namen „Exodus“ in die Geschichte eingehen sollte.

Nach unserer Begegnung im Mai drehte sich der E-Mail-Austausch zwischen Noah und mir eher um belangloses Zeug. Nebenbei gab der Schalk mir zu verstehen, ich solle es mir zweimal überlegen, ob ich ihn nach Luxemburg einlade, da ich ja für zwei Personen aufkommen müsse, weil er nicht aus eigener Kraft im Rollstuhl in den Konferenzsaal fahren könne.

Als ob ich etwas geahnt hätte, schrieb ich am 10. Dezember folgende E-Mail: „Hallo Noah, wollte nur kurz fragen, wie es dir geht. Kommst du im Januar nach Lausanne? Würde mich freuen, dich bei bester Gesundheit wiederzusehen. Bis dahin alles Gute, Petz.“ Klieger, der stets Pflichtbewusste, antwortete nicht. Stattdessen erhielt ich am späten Nachmittag des 13. Dezember einen Anruf der Redaktion. Noah war am selben Tag gestorben.

Vier Lager, zwei Todesmärsche

Die Geschichte von Noah Klieger ist einmalig. Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, der auch in Auschwitz III saß, meinte sogar: „Noah Klieger ist die Geschichte dieses Jahrhunderts. Er hatte ein Leben, wie es keines mehr geben kann.“ Was Klieger, der vier Lager, zwei Todesmärsche und zwei Jahre Auschwitz überlebt hat, gelassen hinnahm: „Ich bin wirklich mehr oder weniger das Jahrhundert. Leider Gottes. Ich war nicht lange jung. Mit 14 lebte ich schon unter deutscher Besatzung, mit 16 war ich im Lager. Von knapp 1,3 Millionen Juden haben weniger als 50.000 Auschwitz überlebt. Auschwitz kann man nicht erklären, man kann sich Auschwitz nicht vorstellen. Man kann das nur erzählen. Ich hatte sehr viel Glück. Es war vor allem eine Frage des Glücks, oder besser gesagt der Wunder, um Auschwitz zu überleben. Auch meine Eltern, die ich nach dem Krieg per Zufall in einer Straßenbahn in Brüssel wiedertraf, haben überlebt, und so sind wir die einzige Familie, die nach Auschwitz deportiert wurde und deren Mitglieder alle heil aus dieser Hölle zurückkamen.“

Erste Zeitung in Luxemburg

Als ich Noah Klieger vor Jahrzehnten erstmals begegnet bin und man ihm sagte, ich sei Luxemburger, fing er an, die „Heemecht“ zu summen. Um dann plötzlich lauthals zu singen: „Looss virublénken d’Fräiheetssonn, déi mir sou laang gesinn.“

Klieger, der Freiheitsliebende, hatte mit Luxemburg so einiges am Hut. Er wurde am 31. Juli 1926 in Straßburg als Norbert Klieger geboren, sein Vater war Publizist, er gab u.a. ein antifaschistisches Blatt heraus, das „Le Pont – die Brücke“ hieß. Als der judenfeindliche Pierre Laval Mitte der Dreißigerjahre Ministerpräsident in Frankreich wurde, floh die Familie nach Luxemburg, wo Norbert eine Zeitlang die Schule in der rue de Strasbourg besuchte. „Hier machte ich meine erste Zeitung“, erzählte mir Klieger. „Es waren vier Seiten, die ich auf der Hand schrieb und in der Klasse verteilte.“

Der schmächtige, kleingewachsene Junge war den Kameraden dank seiner Vielsprachigkeit (Französisch, Deutsch, Englisch) überlegen, er schrieb sogar einen Aufsatz, der prämiert wurde und lange an einer Wand im Schulgebäude aushing. Für kurze Zeit kehrte Norbert mit seiner Familie ins Elsass zurück. Inzwischen hatte der Sozialist André Léon Blum die Geschicke in Frankreich übernommen. Im Jahr 1938 beschloss der Vater, nach Brüssel zu ziehen. Irrtümlicherweise nahm er an, die Deutschen würden Belgien verschonen, weil der damalige König Léopold III. ein „glühender Verehrer Hitlers“ war.

Norbert Klieger wurde am 15. Januar 1943 mit etwa 80 Juden, Frauen und Männern, in einem der Frachtwaggons eines langen Güterzuges zusammengepfercht. Nach drei Tagen und drei Nächten hielt der Zug an der Rampe von Auschwitz-Birkenau.

Bis zum 29. April 1945, als einer von drei russischen Offizieren das Tor des Lagers öffnete und schrie: „Kamerrraden, ihrrr frrrei, wirrr sind Rote Arrrmee“, konnte Klieger dem drohenden Tod von der Schippe springen. Immer wieder standen ihm dabei das Glück und der Zufall zur Seite. So auch als er sich in seinem Überlebenskampf für eine Boxstaffel meldete, obwohl er vorher noch nie in einem Ring gestanden hatte.

Der Kommandant von Auschwitz III, Hauptsturmführer Heinrich Schwarz, war ein Boxnarr und hielt sich zur Gaudi seiner Leute eine 30-köpfige Boxstaffel, der u.a. auch der tunesische Fliegengewichtsweltmeister Victor Young Perez (er wurde drei Monate vor der Befreiung von Auschwitz hinterrücks erschossen) und verschiedene nationale Meister aus den Balkanländern angehörten. Einer dieser jüdischen Boxer, der Grieche Jacko Razon, bewahrte Klieger beim entscheidenden Test vor der Gaskammer. Beide hatten abgemacht, zu simulieren. Razon ließ die Deckung bei den eher stümperhaften Angriffen von Klieger offen und drosselte seine eigenen Schläge.

Klieger bestand die Prüfung, er kam in die Boxstaffel, die Anrecht auf einen halben freien Tag zum Training und einen Extraliter Suppe erhielt. Als er aber an beidseitiger Pleuritis und schwerer Ruhr erkrankte, dazu noch von 72 auf 48 kg abmagerte, wollte Schwarz ihn nicht mehr im Ring. Klieger dachte weiterhin nur noch ans Überleben, um später der Welt erzählen zu können, was die Deutschen den Juden angetan haben. „Der ‚Ewige‘ lässt mich so alt werden, um vor Schulklassen, Armee-Einheiten, Organisationen und Klubs das Gedächtnis an die Millionen Ermordeten aufrechtzuerhalten“, sagte er mir immer wieder. „Nur die Niederlage der Deutschen verhinderte die totale Vernichtung des jüdischen Volkes. Hätten die Deutschen den Krieg gewonnen, gäbe es keinen einzigen Juden mehr auf dieser Welt.“

Basketball, die große Liebe

Nach der Gründung Israels, die der Hartnäckigkeit von Menschen wie Klieger zu verdanken ist, wurde er in Tel Aviv heimisch und trat 1957 der Redaktion von Israels auflagenstärkster Tageszeitung Yedioth Achronoth („Letzte Nachrichten“) bei, für die er noch vor zehn Tagen seine letzte Kolumne verfasste. „Ich wurde als Journalist geboren und bleibe es bis zu meinem Tode“, so der Tenor von Klieger, der mit einem phänomenalen Gedächtnis ausgestattet war. Jede Zahl, jedes Gesicht, jedes Detail, an alles erinnerte er sich.

Neben den Kriegsverbrecherprozessen (u.a. Eichmann in Jerusalem, Auschwitz in Frankfurt, Sobibor in Hagen, Majdanek in Düsseldorf, Barbie in Lyon, Demjanjuk in München) hatte auch der Sport, insbesondere der Basketball, es Noah Klieger angetan. Für seine Zeitung war er bei Europa- und Weltmeisterschaften, auch berichtete er von den Olympischen Sommerspielen in München 1972 und dem blutigen Anschlag auf die israelische Delegation. Schließlich versuchte er sich als Präsident des legendären Basketclubs Maccabi Tel Aviv, war Vorsitzender der Basketkommission der AIPS und wurde 2015 in die „Hall of Fame“ des internationalen Basketverbandes aufgenommen.

Kostenlosen Geschichtsunterricht wird es fortan keinen mehr von Noah Klieger geben. Auch werden E-Mails mit dem Anfangssatz auf Luxemburgisch „Moie Petz, hei ass den Noah, wéi geet et?“ der Vergangenheit angehören. Was aber bleibt, ist der trockene Humor des Kollegen und Freundes, der „in der Pension Auschwitz zwei Jahre als Gast der damaligen deutschen Regierung, bei voller Verpflegung“ verbringen durfte. Und täglich davon träumte, an einem Tisch zu sitzen, der „mit einer dampfenden Kanne mit köstlich duftendem Kaffee, einem Kännchen Milch und verschiedenen Arten von Brötchen gedeckt ist, die mit Butter, mit Käse, mit Wurst, mit Lachs, mit Eiern und mit Honig belegt sind“. Um dann unsanft vom Stubenältesten geweckt und in die triste Realität zurückgeholt zu werden.

„Yalla bye, Noah …“