Nahost: Im Westjordanland und Gaza ist Bewegungsfreiheit ein Privileg

Nahost: Im Westjordanland und Gaza ist Bewegungsfreiheit ein Privileg

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Im zweiten Teil der Serie „Die Identitätskrise der Palästinenser“ geht es um das israelische „Permit System“, was den Palästinensern im Westjordanland und in Gaza jede Möglichkeit, sich frei zu bewegen, raubt. Im Gegensatz zu den arabischen Israelis benötigen sie manchmal selbst für Strecken von einigen Kilometern eine Genehmigung vom Militär.

Von Michelle Schmit*

Von der Außenwelt abgekapselt und jede Bewegung abhängig von einer Genehmigung des Militärs – dies ist der bittere Alltag der 3,4 Millionen Palästinenser im Westjordanland und der fast 2 Millionen Bewohner des Gazastreifens. Ob es um Bildung, Häuserbau, Familienbesuch, Reisen, Beerdigung oder medizinische Behandlungen geht, nahezu jeder Aspekt des Lebens in Palästina wird vom israelischen Militär reguliert. Mittlerweile gibt es 101 verschiedene Arten dieser Genehmigungen. Es handelt sich hierbei um zeitlich begrenzte Passierscheine, welche Palästinenser beantragen müssen, um die Checkpoints innerhalb des Westjordanlands oder die Grenzen zwischen den palästinensischen und israelischen Gebieten passieren zu können.

Diese Genehmigungen müssen in der Regel nach drei Monaten erneuert werden, können allerdings jederzeit und ohne vorherige Benachrichtigung vom israelischen Militär zurückgezogen oder am Checkpoint ganz einfach ignoriert werden. Ein solcher Passierschein ist daher keine Garantie, dass man auch wirklich durch den Checkpoint gelassen wird. Einige Menschenrechtsorganisationen haben Klage gegen dieses System beim Obersten Gerichtshof Israels eingereicht. Dieser hat in seiner Entscheidung anerkannt, dass das „Permit System“ die Rechte der Palästinenser verletzt, allerdings seien Schaden und Nutzen des Systems proportional. Die Passierscheine seien für Israel unverzichtbar, um die im Westjordanland lebenden Israelis zu beschützen.

Checkpoints machen Alltag unerträglich

Seit dem Sechstagekrieg 1967 werden diese Passierscheine im besetzten Westjordanland vom israelischen Militär eingesetzt. Seit 1991 gibt es individuelle Passierscheine, was mit sich bringt, dass jeder Einzelne, der von Palästina nach Israel will, an den Checkpoints untersucht wird. Viele Palästinenser stehen morgens bereits um vier Uhr in der Schlange, damit sie rechtzeitig zur Arbeit kommen.

Seit das Westjordanland durch das Oslo-Abkommen 1995 in drei Zonen eingeteilt ist, gibt es ebenfalls im Landesinneren Checkpoints. Dies bedeutet also, dass die Bewegungsfreiheit der Palästinenser mittlerweile sogar in ihrem eigenen Gebiet von der „Gutherzigkeit“ der israelischen Armee abhängig ist. Letztes Jahr gab es im Westjordanland 140 feste und wöchentlich ungefähr 60 mobile Checkpoints. Sogar mit Passiererlaubnis müssen die Palästinenser sich anstellen und zu den Stoßzeiten oftmals zwei bis drei Stunden warten.

Die meisten Permits werden für Arbeitszwecke ausgestellt. Allerdings kommt es häufig vor, dass ein Checkpoint kurzerhand geschlossen wird. Dann können selbst die wenigen Palästinenser mit einer Arbeitserlaubnis in Israel nicht zu ihrem Arbeitsplatz gelangen, der oft nur wenige Kilometer entfernt ist. Die Bewegungsfreiheit und das Recht auf Arbeit werden durch dieses System zu Privilegien, die einzig und allein von der Entscheidung des israelischen Militärs abhängig sind. Für politisches Engagement können die Passierscheine zurückgezogen werden. Dies hat zur Folge, dass viele Palästinenser, die in Israel arbeiten, Angst haben, Stellung zu beziehen, da sie sonst womöglich den Lebensunterhalt ihrer gesamten Familie gefährden.

Blockade seit 2007

Der 360 Quadratkilometer große Gazastreifen unterliegt seit 2007 einer Blockade. Angeblich will Israel dadurch die Einfuhr von militärisch nutzbaren Gütern verhindern, allerdings leiden die Bewohner furchtbar unter dem Mangel an Nahrung, Trinkwasser und medizinischer Vorräte. Krankenhäuser in Gaza verfügen weder über eine geeignete Ausstattung noch über genügend Medikamente, um Schwerkranke behandeln zu können.

Viele Palästinenser müssen also den Gazastreifen verlassen, um überhaupt medizinisch behandelt werden zu können. Allerdings behindert sie das unvorhersehbare „Permit System“ darin – und kostet einige sogar das Leben. Nach Angaben der World Health Organization (WHO) gab es letztes Jahr mehr als 25.000 Anträge auf Passierscheine aus gesundheitlichen Gründen. Nur 60% davon wurden genehmigt, 8% wurden abgelehnt und 32% wurden gar nicht erst beantwortet.

Jeder Palästinenser gilt als Sicherheitsrisiko

Wenn die Anfrage unbeantwortet bleibt, muss der Betroffene den ganzen Prozess wiederholen: Zuerst einen Termin bei einem Spezialisten beantragen, dann eine Zahlungsgarantie von der palästinensischen Regierung bekommen, welche dann den Antrag ans israelische „District Coordination Office“ weiterleitet. Und dann beginnt erneut das unerträgliche Warten. Im Jahr 2017 starben 54 kranke Bewohner Gazas, während sie auf ihre Passiererlaubnis warteten.

So auch die vierjährige Yara. Sie litt unter chronischem Herzversagen. Ihre erste Anfrage wurde genehmigt und sie konnte nach Ostjerusalem, um dort behandelt zu werden. Allerdings wurde der Antrag auf Fortsetzung der Behandlung verweigert und das kleine Mädchen starb sechs Monate nach seiner Diagnose. Man erkennt, dass das israelische „Permit System“ jeden einzelnen Palästinenser als Sicherheitsrisiko betrachtet, selbst ein krankes vierjähriges Mädchen. Für den „Schutz der öffentlichen Sicherheit“ wird den Palästinensern ein Recht auf Leben verweigert.

In Teil 1 der Serie “Die Identitätskrise der Palästinenser” geht es um die Lebensumstände der Palästinenser, die im heutigen Israel oder in Ostjerusalem leben.
* Michelle Schmit ist 24 Jahre alt und hat letztes Jahr ihren Master in internationalem Recht an der Université Paris-1 Panthéon-Sorbonne abgeschlossen. Derzeit bereist sie verschiedene Länder im Nahen und Mittleren Osten.