Jules Heisten, Escher Bürgermeister unter der Nazi-Fuchtel

Jules Heisten, Escher Bürgermeister unter der Nazi-Fuchtel

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„Als die Hakenkreuz-Fahne auf dem Escher Stadthaus wehte“: In einer dreiteiligen Serie beleuchtet Jos. A. Massard, Ehrenbürgermeister von Echternach, die Geschichte der Stadt Esch unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Den Auftakt macht Jules Heisten, der ab Juli 1940 Bürgermeister war.

Von Jos. A. Massard

Anfang Mai 1940 laufen in der Stadt Esch/Alzette die Vorbereitungsarbeiten zur traditionellen Pfingstkirmes auf Hochtouren. Am Freitag, dem 10. Mai, jedoch, zwei Tage vor Pfingstsonntag, wird der aufkommenden Festtagsstimmung ein jähes Ende bereitet: Die deutsche Wehrmacht überfällt Luxemburg. Esch sowie andere Teile des Südens des Landes werden zum Kampfgebiet, wo sich deutsche und französische Soldaten Scharmützel liefern.

Der Escher Gemeinderat versammelt sich, um die Lage zu besprechen. Bürgermeister ist Hubert Clément, dem die beiden Schöffen Franz Cigrang und Leo Kinsch zur Seite stehen. Ratsmitglieder sind Jules Heisten, Victor Wilhelm, Franz Donven, Jean Berg, Xavier Blum, Jos. Schroeder, Antoine Krier, Henri Habig, Will Theves, Leo Weirich, Jules Schreiner, Pierre Goedert, Nic. Quiring und Demy Bach. Nach der Sitzung begibt sich Bürgermeister Clément ins französische Grenzgebiet, um Kontakt mit den dortigen Militärbehörden aufzunehmen, die ihm schließlich bescheiden, Esch müsse so schnell wie möglich evakuiert werden, die Kinder und Frauen noch während der Nacht, die Männer am folgenden Tag.

Ab 10./11. Mai 1940 wurde der größte Teil der Einwohner der Stadt Esch nach Frankreich evakuiert. Bürgermeister Clément verließ die Stadt am 11. Mai gegen 5 Uhr morgens. Auch die Schöffen hatten das Land verlassen. Einige Gemeinderatsmitglieder hatten es vorgezogen, zu bleiben, unter ihnen Jules Heisten, der als rangältestes Ratsmitglied die Rolle des diensttuenden Bürgermeisters übernahm. Seine Aufgabe war es, sich um die über 2.000 Menschen zu kümmern, die sich noch in Esch aufhielten. Am 13. Mai ordnete das deutsche Oberkommando aus Luxemburg deren sofortige Abreise ins Innere des Landes an. Am 14. Mai war die Evakuierung der Stadt Esch abgeschlossen. Zahlreiche Evakuierte wurden im Ösling, insbesondere im Kanton Clerf untergebracht. Andere fanden in der Stadt Luxemburg Unterschlupf, darunter auch die Familie Heisten, oder in anderen Ortschaften des Zentrums.

„Die Straßen sind nahezu menschenleer“

Die Escher Gemeindeverwaltung, mit Heisten als diensttuendem Bürgermeister an der Spitze, unterhielt in der Hauptstadt ein Büro, zuerst im Cercle-Gebäude, dann in der Heiliggeiststraße. Am 26. Juni teilte die Feldkommandantur mit, dass ab Freitag, dem 28. Juni, die Rückkehr der evakuierten Bevölkerung in die Orte Esch, Bettemburg und Kayl freigegeben werde. Aus allen Teilen des Landes und aus Frankreich strömten die Escher Evakuierten in ihre Heimatstadt zurück. Bürgermeister Clément, der wegen seinen nazifeindlichen Stellungnahmen im Escher Tageblatt zu Recht die Rache der neuen Herren fürchtete, zog es vor, im Exil zu bleiben.

Vertretern der Presse wurde am 28. Juni 1940 erstmals die Gelegenheit geboten, sich im Minettebassin umzusehen, unter anderem auch in Esch. „Am Eingang von Esch – berichtete die Obermosel-Zeitung – liegen fünf schwere französische Panzerwagen, schlimme Dinge, die gar bösartig dreinblicken. Etwas weiter in den Wiesen recken etliche abgebrannte Flugzeuge ihr nacktes Gerippe gen Himmel. Auf den Marktplätzen von Esch stehen noch die Kirmesbuden, so wie sie zur Pfingstkirmes angefahren waren. […] Die Straßen sind nahezu menschenleer.“

Einfach waren die ersten Tage nach der Rückkehr allerdings nicht. „Alles in allem – klagte die Obermosel-Zeitung Anfang Juli – bleibt Esch bisher eine tote Stadt und nicht ohne Bedrückung durchwandelt man die sonst so geschäftigen Straßen, in denen erst vereinzelte Bäcker, Metzger und Gaststätten wieder geöffnet haben.“

Jules Heisten, neuer Bürgermeister von Esch

Am 3. Juli 1940 setzte die in Abwesenheit der Regierung handelnde luxemburgische Landesverwaltungskommission einen zeitweiligen neuen Schöffenrat ein, mit Jules Heisten als Bürgermeister und den Räten Will Theves, Oberingenieur, und Nic. Quiring, Prokurist, als Schöffen. Die neuen Schöffen sollten nur sehr kurze Zeit im Amt bleiben, denn bereits am 18. Juli 1940 nahmen die aus der Evakuation aus Frankreich zurückgekehrten Vorkriegsschöffen Cigrang und Kinsch ihren früheren Platz im Schöffenrat wieder ein.

Am 31. Juli fand eine kurze Gemeinderatssitzung mit nur einem Punkt statt und am 10. August 1940 die erste „normale“ Gemeinderatssitzung seit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Am 27. August 1940 unternahm der Landkommissar für den Distrikt Luxemburg, Oberbürgermeister Richard Hengst, eine kurze Besichtigungsfahrt durch das Land der Roten Erde. Im Stadthaus von Esch – berichtete die Obermosel-Zeitung – begrüßte Bürgermeister Heisten den Gast und sicherte ihm die aufrichtige und verantwortungsbewusste Mitarbeit aller für das Stadtwohl verantwortlichen Männer zu. Der Krieg habe der Stadt zwar manche Wunden geschlagen, im Vertrauen auf den Führer des großen Reiches, der jetzt den Schutz des Landes übernommen habe, und die durch ihn eingesetzten Männer hoffe er aber, dass die Stadt zu neuer Blüte gelangen werde.

Sichtbares Zeichen der neuen Zeit waren die Umbenennungen der Escher Straßen, welche der Schöffenrat Ende September 1940 bekannt gab: Adolf-Hitler-Straße (Alzettestraße), Hermann-Göring-Straße (Bahnhofavenue), Michel-Lentz-Straße (Bel’air-Straße), Schreberstraße (Abbé-Lemire-Straße), Bessemer-Straße (Achille-Fournier-Straße), Schiller-Straße (Dr.-Welter-Straße), Grobirchen-Straße (Faubourg-Straße), Siegfried-Straße (Jean-Jaurès-Straße), Robert-Koch-Gasse (Karl-Marx-Straße), Norbert-Metz-Straße (Quartier), Trambahnstraße (Tramwaystraße), Goethe-Straße (Victor-Hugo-Straße).

Besetztes Escher Tageblatt

Am 19. Oktober 1940 nahm das Escher Tageblatt, das seit dem 10. Mai nicht mehr erschienen war, seinen Betrieb wieder auf. Allerdings von nun an im Sinne der Besatzer! „Diente dieses Blatt vor den Kriegsereignissen im Westen lediglich jüdischem Ungeist und klassenkämpferischen Tendenzen – verkündete die gleichgeschaltete luxemburgische Presse –, so soll es heute das Blatt für das schaffende Volk im luxemburgischen Industriegebiet sein. Die Spalten des Blattes werden von nun an die neue Zeit und den neuen Geist wiedergeben, der nunmehr auch in Luxemburg […] eingekehrt ist.“

An demselben 19. Oktober fand in Esch eine große Kundgebung mit Gauleiter Gustav Simon statt. „Am Abend der Gauleiterkundgebung fand ein Empfang im Stadthaus statt. BDM-Mädels bedienten die Gäste, während der Schöffenrat sich abseits in seinem Zimmer aufhielt. Er verduftete, sobald sich die passende Möglichkeit bot.“ Soweit Schöffe Cigrangs Version in der ersten Nachkriegssitzung des Escher Stadtrats im Januar 1945.

Diese Darstellung überrascht, denn im Protokollregister der Sitzung des Stadtrats vom 17. Oktober 1940, wo ein Kredit von 100.000 Franken für diese Veranstaltung gestimmt wurde, war zu lesen, der Stadtrat rechne es sich zur Ehre an, den Vertreter des Deutschen Reiches in Esch würdig zu empfangen. Eine Fälschung!, empörte sich Cigrang im Januar 1945: „Wir saßen (in der Stadtratssitzung von 1940, d.Red.) mit dem Strick um den Hals, als wir den Kredit votierten. Aber, Pfui für denjenigen, der die Eintragung vornahm und sie mit seiner Unterschrift versehen nach Luxemburg zur Genehmigung sandte.“ Hiermit gemeint war Bürgermeister Heisten, dem die alleinige Schuld für diesen Kredit, den nachträglich keiner der damaligen Stadtratsmitglieder gestimmt haben wollte, zugeschrieben wurde.

Jules Heisten, Kaufmann und Lokalpolitiker

Am 25. November 1940 wurde den Escher Stadträten mitgeteilt, der Gemeinderat sei aufgrund einer Verordnung des Chefs der Zivilverwaltung vom 15. November 1940 mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Der Schöffenrat, mit Heisten an der Spitze, blieb aber vorerst weiterhin im Amt. Jules Heisten wurde am 3. Oktober 1885 in Esch/Alzette geboren, als Sohn des aus Rümlingen im Ösling gebürtigen Kaufmanns Eloi Heisten, genannt „Louis“. Nachdem er in die kaufmännischen Fußstapfen seines Vaters getreten war, wurde Jules Heisten im Januar 1910 in den Vorstand des Escher Geschäftsverbands gewählt, in dem er zeitweilig als Sekretär fungierte.

Im Oktober 1917 kandidierte Heisten erfolglos bei den Gemeindewahlen in Esch. Bei den Wahlen vom 27. April 1919 gelang ihm aber der politische Durchbruch, und am 7. Mai 1919 trat er sein Mandat im Escher Stadtrat an. Ab Oktober 1920 wurde in Esch nach dem Proporzsystem gewählt. Heisten wurde regelmäßig wiedergewählt, 1920 auf der Liste der Freien Ordnungspartei, 1924, 1928 und 1934 auf der Liste der Rechtspartei. Durch unterschiedliche Umstände war Heisten zwischenzeitlich zwei Mal Schöffe geworden, und zwar vom August 1919 bis Ende 1920 und vom Oktober 1921 bis Ende 1924.

Im Januar 1935 wurde er sogar interimistischer Bürgermeister. Und das kam so: Im Oktober 1934 waren die Sozialisten mit acht Sitzen die eindeutigen Wahlgewinner. „Esch ist wieder das rote Esch geworden“, jubelte das Escher Tageblatt. Die Bildung eines neuen Schöffenrats zog sich jedoch derart in die Länge, dass die Regierung am 1. Januar 1935 die drei rangältesten Räte interimistisch mit der Führung der Gemeindegeschäfte beauftragte. Heisten wurde Bürgermeister, Victor Wilhelm Erster und Eugène Reichling Zweiter Schöffe. Erst am 2. Juli 1935 kam ein neuer Schöffenrat zustande, mit Hubert Clément (Arbeiterpartei) als Bürgermeister, Eug. Reichling (Rechtspartei) und Franz Cigrang (Radikal-Liberale Partei) als Schöffen. Heisten war wieder einfaches Ratsmitglied, bis zum 11. Mai 1940, wo er, wie eingangs gesehen, zuerst diensttuender und später „richtiger“ Bürgermeister wurde.

Hubert Clément kehrt zurück

Am 18. April 1941 wurde Heisten durch den reichsdeutschen Bürgermeister Pg. Otto Komp abgelöst. Sein Name taucht allerdings später in der Liste der im September 1941 vom Kreisleiter eingesetzten Stadträten auf.

Am 9. Januar 1945 fand die erste Nachkriegssitzung des rechtmäßigen Escher Gemeinderats unter dem Vorsitz des aus dem Exil zurückgekehrten Bürgermeisters Hubert Clément statt. Heisten hatte im Vorfeld der Sitzung erklärt, so lange auf die Ausübung seines Mandats verzichten zu wollen, bis durch die laufende Untersuchung Klarheit über seine Haltung während des Krieges geschaffen sei. Im Oktober 1945 teilte der Innenminister mit, dass die gegen Heisten vorgebrachten Klagen bzw. Vorwürfe nicht derartig seien, dass Sanktionen ergriffen werden müssten. Heisten verzichtete trotzdem fortan auf eine weitere politische Aktivität. Er starb am 5. April 1967 in Esch/Alzette und wurde am 8. April 1967 auf dem Escher St.-Joseph-Friedhof begraben.