In Polen ist der Rechtsstaat in Gefahr

In Polen ist der Rechtsstaat in Gefahr
Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki bei seiner Rede gestern im EU-Parlament.

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Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sollte gestern in Straßburg mit den EU-Parlamentariern eigentlich über die Zukunft der EU diskutieren. Diese aber sorgen sich mehr um den derzeitigen Zustand der polnischen Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit im Land.

Es war sicherlich nur Zufall, dass der polnische Regierungschef ausgerechnet an dem Tag vor dem EP seine Rede zur Zukunft der EU halten soll, an dem Polens Oberste Richterin, Malgorzata Gersdorf, in Warschau ein Zeichen gegen ihre Zwangspensionierung setzt und dennoch zur Arbeit erscheint. Unterstützt wurde sie dabei laut Medienangaben von rund 4.000 Demonstranten. Doch auch vor dem Europäischen Parlament demonstrierten Gegner der Regierung gegen die Justizreform.

Die polnische PiS-Regierung liegt mit der EU-Kommission wegen ihrer Justizreform über Kreuz. Unter anderem die Herabsetzung des Pensionsalters für die Richter am Obersten Gerichtshof hat Letztere dazu veranlasst, ein Rechtsstaatsverfahren gegen die Regierung in Warschau einzuleiten. Denn nicht nur in Brüssel, sondern auch in anderen EU-Staaten ist man der Auffassung, dass die PiS-Regierung mit ihrer Justizreform gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstößt.

Vor diesem Hintergrund war es nicht anders zu erwarten, dass sich die EU-Parlamentarier hauptsächlich mit der Situation in Polen befassten. Gleichzeitig provozierte Mateusz Morawiecki das geradezu, auch wenn er durchaus auch positive Ansätze zu bieten hatte. So unterstützte er das Parlament in seiner Forderung nach mehr Eigenmittel für den EU-Haushalt, damit dieser unabhängiger von den Beiträgen aus den EU-Staaten wird. Er sprach sich für den Kampf gegen Steueroasen aus und kritisierte die in Steuerangelegenheiten zu große Macht internationaler Unternehmen.

In Sachen Klimawandel will Polen ebenso vorangehen wie beim weiteren Ausbau des Binnenmarktes, nicht nur in seiner digitalen Form, sondern auch was die Dienstleistungen anbelangt. Hier sprach sich Morawiecki für eine Überarbeitung der 2006 verabschiedeten Dienstleistungsrichtlinie aus. Europa sollte auch neue gemeinsame technologische Projekte angehen, beispielsweise im Bau von Elektrofahrzeugen.

Und für Afrika regt der polnische Regierungschef die Schaffung eines Entwicklungsfonds und die Auflage eines Marshallplans an, zu denen Polen bereit wäre, über seine wirtschaftliche Stärke hinaus beizutragen. Hier aber hat zumindest der luxemburgische EP-Abgeordnete Frank Engel seine Probleme, der sich fragt, wie dies zusammenpasse mit einer polnischen Regierung, die nur sehr wenig für Entwicklungshilfe bereitstellt und nicht einmal über ein Entwicklungsministerium verfügt.

Angst um Verlust von Kohäsionsmitteln

Doch ansonsten redete der Pole überwiegend einer EU der Nationalstaaten das Wort. Großen Einsatz zeigte Mateusz Morawiecki, was den Erhalt der Mittel im EU-Haushalt für die Kohäsionspolitik anbelangt. Versuche, diese Politik zu beschneiden, seien „Populismus unter europäischer Flagge“, meinte er.

Die Aufregung des polnischen Regierungschefs hat ihren Grund. Polen erhält mit 86 Milliarden Euro über sieben Jahre den höchsten Beitrag aus den Kohäsionsfonds. Die Kommission hat jedoch vorgeschlagen, die Kohäsionsmittel in der künftigen mehrjährigen Finanzplanung der EU zu kürzen. EU-Kommissar Valdis Dombrovskis rechnete gestern vor, dass Polen auch künftig jährlich pro Kopf 270 Euro erhalte, während der EU-Durchschnitt bei 120 Euro pro Kopf liege.

Zudem steht die Idee im Raum, diese Gelder an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu knüpfen. Das könnte dann dazu führen, dass die PiS-Regierung sehr schlechte Karten bei ihrer Auseinandersetzung mit der Kommission hat.

Auch in dieser Frage focht der polnische Regierungschef Abwehrkämpfe aus, etwa als er darauf verwies, dass die „Achtung der nationalen Identitäten eine der Stützen der EU“ sei. Und: „Jedes Land der Europäischen Union hat ein Recht darauf, sein Rechtssystem gemäß seiner eigenen Traditionen zu gestalten“, so Morawiecki. Um was es tatsächlich geht, erklärte er allerdings erst in einem zweiten Anlauf. Es gebe immer noch Richter aus der Zeit des Kriegsrechts, die an polnischen Gerichten tätig seien. Die Reform sei auch ein Versuch, „das Joch des Kommunismus abzuwerfen“, so der Pole. Mit der Reform seiner Regierung seien die Richter heute ohnehin viel unabhängiger als vorher.

Morawiecki griff die EU-Kommission, die seit Monaten versucht, eine Beilegung des Streits um die Justizreform herbeizuführen, direkt an, als er fragte, „ob die Kommission wirklich ein ehrlicher Makler“ sei. „Ich habe beträchtliche Zweifel, dass das so ist“, sagte Morawiecki.

Eine Mehrheit der Fraktionen im EP unterstützte die Kommission und ist ebenfalls der Ansicht, dass die polnische Regierung mit ihrer Reform den rechtsstaatlichen Ansprüchen der EU nicht mehr gerecht wird. Der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion Manfred Weber wies darauf hin, dass es Polen war, das als erstes Land in Europa 1791 den Grundsatz der Gewaltenteilung in seiner Verfassung verankerte.

Nicht wenige forderten, wie der Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion Udo Bullmann, Polen möge wieder „ins Zentrum Europas“ zurückkehren. Und Guy Verhofstadt von den Liberalen machte Morawiecki darauf aufmerksam, dass die von diesem gewünschte europäische Verteidigungsunion auch Soldaten bräuchte, die bereit seien, ihr Leben für europäische Werte zu geben. Und diese Werte seien demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien.

Ob die Appelle der EP-Abgeordneten an den polnischen Regierungschef die Justizreform zu überdenken, fruchten, darf bezweifelt werden. Denn diese dürfte nicht nur für die PiS-Regierung vermutlich längst zu einem Symbol dafür geworden sein, wohin sich die EU künftig entwickelt: zu einer Union der Nationalstaaten oder zu einer weiter auf Integration setzenden Union.