Die Freiheit der Kritik: Zur Not und Notwendigkeit eines geschmähten Berufsstandes

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Als Marcel Reich-Ranicki, der „Literaturpapst“ und Gastgeber des Literarischen Quartetts, im Jahr 2013 starb, war das auch das Ende einer Epoche: Das Zeitalter der Kritik war vorbei. Übrig blieben Rezensionen auf Amazon, Like-Daumen auf Facebook, Klicks auf Youtube oder Skalen bei Rotten Tomatoes. Die quantifizierbare Note ersetzt zusehends das qualitative Urteil. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist das Nachdenken über die Kunst.

Von Tom Haas

„Die Feigheit der Kritiker ruiniert die Kunst“ lautete die Überschrift eines viel beachteten Artikels in der Zeit von 2004. Der Autor, Kunst- und Architekturkritiker Hanno Rauterberg, monierte darin die Beliebigkeit der Kritiker, die zugleich Künstler, Kuratoren und Berater sein wollten – die also ihre Verpflichtung zur Unvoreingenommenheit zugunsten einer Liebelei mit der Szene vernachlässigten.

Das Resultat: Wenn alle Künstler Kritiker, Kritiker Kuratoren und Kuratoren Künstler sein möchten, entsteht ein Brei der Beliebigkeit, in dem gute Kunst keinen Platz mehr findet – weil niemand mehr in der Lage ist, sie zu erkennen. Was Rauterberg explizit auf die bildende Kunst, also Malerei, Architektur und Plastik, bezog, lässt sich (mit ein paar Besonderheiten) auf die Kunst insgesamt beziehen, von der klassischen Komposition bis zum Videospiel.

Interessenskonflikte

Beispiel: Wenn ein Musikjournalist gleichzeitig Konzertveranstalter und Musiker in einer Band ist, befindet er sich automatisch in einem Spannungsfeld. Einerseits erhält er unverfälschte Eindrücke aus dem Inneren der Szene und versteht die Abläufe besser, andererseits lässt sich ihm bisweilen ein Interessenskonflikt ankreiden, der nicht von der Hand zu weisen ist: Bewertet er das Album der genreverwandten Band nun gut, weil er auf ein gemeinsames Konzert hofft? Verreißt er den anderen Longplayer, weil die Band bei seinem Konzert kurzfristig abgesagt hat? Selbst wenn er sich absolut redlich verhält, keimen Zweifel an seiner Souveränität – und damit auch an seiner Glaubwürdigkeit.

Der Kritiker stellt sich allerdings nicht nur selbst ein Bein. In einer Zeit, in der jeder, der mit einer Meinung und einem Internetzugang ausgestattet ist, seine geistigen Ergüsse der gesamten Welt mitteilen kann, verschwimmt die erkennbare Grenze zwischen sachgerechter Kritik und feinsinnig formuliertem Unfug zusehends. Die rudimentäre Beherrschung von Rechtschreibung und Grammatik gilt bisweilen bereits als intellektuelle Nobilitierung, die anonymen Verfassern von Amazon-Rezensionen eine größere Reichweite bei gleichzeitig kompletter Unbildung ermöglicht als dem bei einer Zeitung angestellten Experten auf seinem Gebiet.

Statt jedoch den Pseudokritikern eine fundierte Auseinandersetzung entgegenzusetzen, geht der Trend bei den Medien in die entgegengesetzte Richtung: Die Neue Züricher Zeitung, weltweit anerkannt für ihr Feuilleton, liefert inzwischen wöchentlich Listen-Artikel für Filme, inklusive der obligatorischen Eins-bis-fünf-Sterne-Bewertung.
So entstehen Woche für Woche zwei Zeugnisse: eines mit Schulnoten für die Kinoveröffentlichungen und ein Armutszeugnis für den Kulturjournalismus des 21. Jahrhunderts.

Eine Einladung zur Diskussion

Oft hört man von Kinogängern oder Bücherliebhabern den Satz: „Mich interessiert die Kritik nicht, ich bilde mir meine eigene Meinung.“ Eine gute Kritik spricht dem Rezipienten jedoch gar nicht das Recht auf die eigene Meinung ab, sondern fungiert viel mehr als Ergänzung, als Prüfstein und als Gegengewicht zur subjektiven Einzelansicht. Sie hilft, das Werk einzuordnen, eröffnet neue Perspektiven – und, ganz wichtig: Ihr darf widersprochen werden! Die heilige eigene Meinung gewinnt schließlich auch dadurch an Reichtum und Kontur, dass man sie ausspricht und verteidigt, überdenkt und neu formuliert.

Die Kritik ist, wenn man so will, immer auch eine Einladung zur Diskussion. Dies gilt umso mehr, je schärfer der Autor sie formuliert. Wertlos wird eine Kritik dann, wenn sie sich darauf beschränkt, das Offensichtliche oder auch das Uninteressante zu benennen.
Eine minutiöse Beschreibung der Kameraführung ist vollkommen sinnfrei, wenn dabei der Bezug zwischen der Technik und dem Inhalt des Films nicht hergestellt wird. Genauso fehl am Platz ist eine Rekapitulation der Handlung – es sei denn, sie dient explizit dem Zweck, die Probleme im Storytelling aufzuzeigen. Wenn eine Kritik zu zwei Dritteln aus der Wiedergabe der Handlung besteht, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass der Kritiker nichts Substanzielles zum Film zu sagen hat.

Es gibt immer etwas zu sagen

Und damit das klar ist: Man kann zu jedem Film, zu jedem Album, zu jedem Kunstwerk etwas Substanzielles sagen, selbst wenn es sich nur um die Erklärung handelt, weshalb das betrachtete Objekt vollkommen belanglos ist. Kunst ist eine Auseinandersetzung mit der Welt, die der Künstler sieht. Die Bandbreite reicht von abstrakten, philosophischen Betrachtungen über soziale Verwerfungen und politische Missstände hin zu persönlichen Erfahrungen – es gibt nichts, aus dem keine Kunst entstehen kann.

Die Aufgabe des Kritikers ist die Auseinandersetzung mit dieser Kunst. Er muss sie einordnen, erklären, interpretieren, ihr zustimmen oder widersprechen und sie natürlich auch bewerten. Dieser Prozess ist subjektiv, er speist sich aus der Erfahrung, dem Wissenshorizont, dem Scharfsinn und auch der Haltung des Kritikers. Aus diesem Grund ist allein die Vorstellung, man könnte ein Kunstwerk mit einer Note von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“ bewerten und damit wäre alles gesagt, vollends idiotisch.

Die Begegnung zwischen Kritiker und Künstler findet auf Augenhöhe statt, es ist keine Lehrer-Schüler-Beziehung. Es mag Meisterwerke in den jeweiligen Gattungen und Genres geben, aber Musterwerke sind eine Illusion – sie wären das Ende jeder kreativen Individualität, die Einladung zu jener Fließbandproduktion, die momentan mit der Flut von Spin-offs, Sequels und Prequels in Hollywood grassiert.

Mut, Wissen und Unabhängigkeit

Um eine gute Kritik zu liefern, braucht es drei Dinge: Mut, Wissen und Unabhängigkeit. Mut bedarf es, um auch unpopuläre Urteile zu fällen und sich nicht von der vorherrschenden Sicht auf ein Werk verführen zu lassen. Wissen hilft, gute von schlechten Werken unterscheiden und sie im gesellschaftlichen Kontext verorten zu können. Unabhängigkeit garantiert die Glaubwürdigkeit, da man sich frei von den Zwängen des Kulturbetriebes bewegt. Zusammen ergeben diese drei Dinge die Freiheit, die Kritik braucht, um etwas zu bewegen – bei den Künstlern, bei den einzelnen Rezipienten und vielleicht sogar bei der gesamten Gesellschaft.

Wichtig ist nicht das einzelne Urteil, sondern die Überlegungen, Perspektiven und Diskussionen, die sich daraus ergeben. Kunstkritik zielt immer darauf ab, die Sicht der Gesellschaft auf die besprochene Kunst zu verfeinern. Kunst funktioniert dabei jedoch als Zerrspiegel jener Gesellschaft, demnach ist ein guter Kunstkritiker immer auch Kritiker der herrschenden Verhältnisse. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit guter Kritik: Sie entwickelt die Betrachtungsweisen und Instrumente, die wir brauchen, um die Gesellschaft als Ganze voranzubringen. Ohne Kunst sind wir Menschen nur ein Rädchen im System, anonyme Ameisen in einer gleichgeschalteten Kolonie.

Sinn stiften kann die Kunst indes nur, wenn wir über sie reden, sonst bleibt sie unverstanden und bedeutungslos. Deswegen müssen Kritiker, müssen Kulturjournalisten den kreativen Schöpfungen des menschlichen Geistes mit Respekt, Sachverstand und Strenge begegnen – das schulden sie sowohl dem Gegenstand ihrer Betrachtung, als auch ihren Lesern.