Wahrheiten über das Wichtigste im Leben – Unser Lektüretipp

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Am letzten Mittwoch erschien Benedict Wells’ fünftes Werk „Die Wahrheit über das Lügen“ im Diogenes-Verlag. Ein Band, der zehn Geschichten des autodidaktischen deutsch-schweizerischen Schriftstellers vereint über Wahrheiten, Träume und Lügen.

Von Caroline Rocco

Seine ersten drei Bücher sind eher humorvoll gehalten und punkten mit Witz und Spannung. Dennoch verbleiben die drei jeweiligen Hauptfiguren, Jesper Lier, Robert Beck und Francis Dean, am Ende der Erzählungen allein. Infolgedessen schlägt Wells, nach eigenen Angaben, in seinem vierten Roman einen etwas anderen, ruhigeren Ton an. Er schreibt „Vom Ende der Einsamkeit“. Das Buch schlug ein und gewann 2016 den „Literaturpreis der Europäischen Union“.

Ein kurzes Zitat des japanischen Filmregisseurs Akira Kurosawa eröffnet den dieses Jahr erschienen Band: „Der Mensch ist ein Genie, wenn er träumt“, lautet die kurze Zeile. Träume sind wohl einer der wichtigsten Bestandteile des Buches. Alle Figuren suchen nach etwas oder versuchen Vergangenes zu verarbeiten. Fast alle Träume entstanden aus einer Lüge oder Illusion – aber eben nicht alle.

Mit seinen zehn Geschichten, geschrieben über einen Zeitraum von zehn Jahren und zusammengefasst auf rund 240 Seiten, setzt Wells den Fokus auf Entscheidungen und auf die Tatsache, dass diese manchmal ein ganzes Leben in eine, meist unerwartete, Richtung lenken können.

Gezielt und feinfühlig

Die erste der zehn Geschichten bildet einen hervorragenden Einstieg. Gezielt und feinfühlig macht Wells auf die Gefühle seiner Figur Henry M. aufmerksam, ohne auszuschweifen oder kitschig zu werden.

Die Erzählung beginnt klischeehaft: Der Karrieremann Henry beschließt, trotz des anstehenden Geburtstags seines noch siebenjährigen Sohnes, eine Wanderung zum Gipfel eines Berges zu unternehmen. Bald wird klar, dass er es nicht rechtzeitig zur Feier am Abend schaffen wird.

Doch dabei belässt es Wells nicht und schreibt ein Finale, das der Geschichte einen nicht zu unterschätzenden Twist geben wird. Sogar wenn man einen zweiten Lesedurchlauf unternimmt, fiebert man förmlich mit, obwohl man weiß, was passieren wird. Man will Henry anschreien, er solle umdrehen, bevor es zu spät ist.

Der mühelose Wechsel zwischen Formaten

Ebenso spannend oder ergreifend formt Wells die darauf folgenden Geschichten. Er wechselt von der Perspektive des personalen Erzählers der ersten Erzählung für die zweite Geschichte in eine andere Form, der des Ich-Erzählers.

Neben den beiden Erzählformen gibt es auch einen längern, fast durchgehenden Monolog (nur sehr selten unterbrochen von den Fragen eines neugierigen Journalisten) in „Das Franchise oder: Die Wahrheit über das Lügen“ und eine Wiederaufarbeitung eines Tagebuches in „Die Entstehung der Angst“.

In „Das Grundschulheim“ ist das erzählende Ich ein ehemaliger Internatsschüler, der im Meer seiner Erinnerungen auf ein Gefühl stößt. Er glaubt, ein Zuhause gefunden zu haben, an einem Ort, an dem keines der Heimkinder freiwillig war. Dabei scheint es naheliegend, dass Wells aus eigenen Erlebnissen, aus seiner Zeit in drei verschiedenen Internaten in Bayern, schöpft.

Entscheidung zwischen Liebe und Kunst

In „Die Muse“ muss sich eine junge Schriftstellerin zwischen der Liebe und der Kunst entscheiden. Achtung, anfänglich wieder ein Klischee: Wie das so oft bei Künstlern der Fall zu sein scheint.

Doch bei dieser Entscheidung geht es um mehr. Wider Erwarten handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Beziehung oder gar einer Abtreibung. Wells versteht es, den Leser, mit zu Fleisch gewordenen Metaphern, zu unterhalten.

In „Die Fliege“ berichtet er von einer Frau, die nach Jahren des Wartens endlich eine Entscheidung trifft und ihr Leben in die Hand nehmen will. Dabei spielen ihr Ehemann und der Tod einer Fliege eine entscheidende Rolle.

Als besonderer Zusatz für Leser, die „Vom Ende der Einsamkeit“ bereits kennen, erzählt Wells zwei Geschichten aus eben diesem Universum, die eine wunderbar auflockernd, ein Märchen, wie Astrid Lindgren es schreiben würde, die andere Licht auf ein dunkles Familiengeheimnis werfend.

Verbundene Universen

Um beide zu lesen und zu verstehen, muss man aber keineswegs das Buch gelesen haben. Dennoch warnt Wells den Leser vor der zweiten Geschichte. Das Aufdecken des Geheimnisses ändert den Blick auf die Hauptfigur Jules Moreau und dessen Vater und kann die emotionale Verarbeitung von „Vom Ende der Einsamkeit“ beeinflussen.

Die restlichen Geschichten handeln von einer absurden Entführung zweier Männer, die weder wissen, „Warum?“ noch „Wie lange?“ sie in diesem kahlen Raum eingesperrt bleiben, mit nichts weiter als einer Toilette, einer Tischtennisplatte, zwei Schlägern und einem Ball, einer älteren Dame, deren Kater Richard ihr ein und alles zu sein scheint, und einer dysfunktionalen Vater-Sohn-Beziehung, wobei der Kilometerzähler des Oldtimers ausschlaggebend wird für ein längst überfälliges Gespräch.

Einfache Sprache ist Wells’ Stärke, dabei zeichnet er seine Charaktere mit wenigen Worten und lässt Raum für die eigene Vorstellungskraft. Die Geschichten entfalten sich sorgsam und erst am Ende wird einem richtig bewusst, was sich vor dem geistigen Auge abspielte.
Wie bei guten Filmen, die man sich mehrmals ansehen kann, ohne ihrer überdrüssig zu werden, liest man in Wells’ Band hinein, legt längere Pausen ein oder verschlingt auch mal alles auf einmal.

Auszüge

Lange Zeit blieb es in der großen Halle still. Die Bücher wollten auf Nummer sicher gehen. Dieser Mr. Stanley war ein misstrauischer alter Knochen, da musste man auf der Hut sein. Dann aber konnte man ein leises Rascheln hören. Ganz vorsichtig hatte sich Jules Verne umgedreht. Es war In 80 Tagen um die Welt. Die anderen taten es ihm zögerlich nach.
(Aus Die Nacht der Bücher)

„… George Lucas war der größte Geschichtenerzähler seiner Zeit, ein genialer Visionär, er hätte mehr Respekt verdient gehabt. Aber ein Fan ist nun mal nicht dankbar oder gerecht. Diese Wut bekam er zu spüren, auch Häme. Am Ende gab es Millionen Menschen, die eine Meinung über ihn hatten, die ihn liebten oder hassten, und wo er auch hinkam, sprachen ihn die Leute auf diese Filme an. Das größte Franchise der Welt erfunden zu haben, schien ihn zu belasten. Ohne Star Wars dagegen wirkte er befreit, fast glücklich.“
„Wirklich?“
Brooks dachte lange nach. Schließlich seufzte er.
„Nein.“
(Aus Das Franchise oder: Die Wahrheit über das Lügen)

 

Warum Sie dieses Buch unbedingt im Urlaub lesen sollten

– Weil man es auch über die Ferien hinaus lesen kann. Es ist zu schaffen, mit dem Buch bis zum 15. September durch zu sein. Vorteilhaft dabei ist der Seitenumfang, die kürzeste Geschichte ist acht Seiten lang, die längste 70. Man kann also durchaus beim Warten auf den Zug oder beim Zahnarzt die weniger gewichtigen durchbekommen.
Wer sich jedoch Zeit lassen möchte, darf auch noch beim Start in die neue Saison weiterlesen.

– Weil man dem hitzigen Alltag entfliehen und erholt wieder zurückkehren kann. Denn Mitgefühl hervorrufen ist eine von Wells’ Qualitäten. Das Märchen „Die Nacht der Bücher“ wird selbst dem grantigsten Leser an einem regnerisch-grauen Montag ein Schmunzeln entlocken können.

– Weil das Lesen dieser Geschichten empfänglicher machen könnte, Wahrheiten und Träume schätzen zu lernen. Denn auch wenn der Traum scheitern sollte, kann man trotz allem sagen, man hat es versucht. Bei der Lüge ist es öfters schwieriger und in den Geschichten brauchen die Figuren manchmal Jahre oder Jahrzehnte, bis sie verstehen, was schiefgelaufen ist. Doch die Wahrheit dringt jedes Mal durch.

Diese Fallbeispiele ermutigen dazu, offener und bodenständiger durchs Leben zu gehen, ohne dass dem Leser irgendeine Weisheit aufgedrängt würde.