Brüder im Geiste – Warum Alexander Solschenizyn noch immer aktuell ist

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Alexander Solschenizyn spaltete in den 1970er- und 1980er-Jahren Ost und West gleichermaßen. Konservativen Kreisen galt er als der Prototyp des Dissidenten, als der furchtlose Kämpfer gegen die Schreckensherrschaft der Bolschewiken in der UdSSR. Den anderen als ein Agent des Westens, Verräter der hehren Ideen der Oktoberrevolution und des „realexistierenden Sozialismus“. In Russland wird heute zum 100. Geburtstag an ihn erinnert.

Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Solschenizyn 1970 wurde sogar als Höhepunkt des Propagandakriegs gegen die UdSSR gedeutet. Der Kalte Krieg verhinderte damals einen klaren Blick auf die schriftstellerischen Leistungen einer Person, die trotz Gefangenschaft und Verbannung, schwerer persönlicher Schicksalsschläge sich nie geschlagen gab. Unabhängig davon, wie man zu ihm stand, die Person ließ und lässt niemanden unbeeindruckt.

Detailreich beschreibt Solschenizyn in seinem umfassenden Werk die jüngere Geschichte seines Landes, in der das System der Gefangenenlager in der damaligen Sowjetunion nur ein, wenn auch bedeutendes, Kapitel war. Immer wieder klinkte er sich in das aktuelle politische Geschehen ein, verschonte dabei weder Freund noch Feind, weder im Osten noch im Westen.

Dass er Russland mitunter verklärt, ihm eine historische Rolle in der Welt zuspricht, ist vielleicht der Grund, warum er heute erneut polarisiert. Seine patriotische Grundstimmung macht ihn zum Liebling der aktuellen russischen Führung. Bereits 2008, im Todesjahr Solschenizyns, unterschrieb Präsident Wladimir Putin den Erlass, den 100. Geburtstag des Schriftstellers (11. Dezember 2018) ausführlich zu feiern.

In Zeiten, da in vielen Ländern eine Rückbesinnung auf die vermeintlich eigenen Stärken gefeiert wird, europäische Integration und Kooperation zunehmend in Frage gestellt werden, muss Solschenizyns schriftstellerisches Vermächtnis, abgesehen von seinen bekanntesten Werken wie „Ein Tag im Leben von Iwan Denissowitsch“ und „Archipel Gulag“, verdächtig reaktionär wirken. Gleichzeitig ist es eine ernst zu nehmende Mahnung, welche Gefahren autoritäre Systeme darstellen, insbesondere für die Grundfreiheiten der Menschen.

Über die heutige Popularität des Schriftstellers in Russland sprachen wir mit Boris Nikolajewitsch Liubimow, einem der besten Kenner des Schaffens Solschenizyns. Liubimow (71) ist seit 2007 Rektor der renommierten Theaterhochschule Schepkin in Moskau. Den Schriftsteller lernte er persönlich 1994 kennen, als er die Aufführung von Solschenizyns 1951 im Straflager verfasste Komödie „Festmahl der Sieger“ vorbereitete. Seit 2004 leitet er auf Einladung Solschenizyns die Jury des gleichnamigen Literaturpreises.

Tageblatt: Im Westen war der Dissident Alexander Solschenizyn hauptsächlich in den 1970er und 80er Jahren ein Thema. In Russland hat seine Popularität in den letzten zwei Jahrzehnten erneut zugenommen. Seine Werke, insbesondere „Archipel Gulag“, sind Teil des Schulprogramms. Eine Art russische „Vergangenheitsbewältigung“?

Boris Nikolajewitsch Liubimow: Alexander Solschenizyn ist vor allem ein großer Schriftsteller. Und große Schriftsteller gehören nicht immer nur ihrer Gegenwart, sondern manchmal auch der Zukunft. Dostojewski ist heute in Russland und in der Welt wichtiger als zur Zeit, als er für seine Zeitgenossen schrieb. Solschenizyn war Dissident, ja, aber das ist nicht das Ausschlaggebende. Er bekam am eigenen Leib die unheilvollsten Ereignisse des 20. Jahrhundert zu spüren: die Revolution, den Krieg, an dem er als kämpfender, mehrfach ausgezeichneter Offizier während drei Jahren teilnahm, dann Gefängnis und Lager, den Krebs, an dem er erkrankte.

Und das gleich zweimal …

Ja, zum zweiten Mal bereits in den USA. Angesichts derartiger Erfahrungen hätte es aussehen können, als gäbe es kaum Aussicht auf ein persönliches Leben. Auch das ist Teil seines Werkes. Als er an Krebs erkrankte, dachte er, er würde niemals Kinder zeugen können, doch dann wurde er dreifacher Vater. Er wird zu „ewiger“ Verbannung verurteilt. Er überlebt diese Verbannung. Kehrt zurück, lebt in völliger Anonymität. Und plötzlich, 1962, nach der Veröffentlichung von „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, wird er schlagartig der berühmteste Mensch im Land.

Es folgen erneut Verfolgungen; er wird wieder festgenommen, wieder verbannt. Einer seiner ersten Sätze, die er 1974 sagte, als er des Landes verwiesen wurde, lautete: „Ich werde nach Russland zurückkehren, unbedingt.“ Später wiederholte er diesen Satz mehrmals, u.a. in einem Gespräch mit dem bekannten französischen Fernsehjournalisten Bernard Pivot. Das war 1983. Juri Andropow (bis 1982 KGB-Chef) stand an der Spitze des Landes. Es bestand keinerlei Hoffnung auf eine baldige Wende. Elf Jahr später in Moskau ein Telefonanruf. „Guten Tag, Boris Nikolajewitsch, hier spricht Alexander Issajewitsch Solschenizyn.“ Seine Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, war schon erstaunlich. Ja, Solschenizyn ist Teil unseres heutigen Lebens.

Obwohl er manchmal befremdliche, ja reaktionäre Ansichten äußerte?

Solschenizyn idealisierte keineswegs die Monarchie. Aber er war gegen jegliche Verleumdung in Russland. Sein Gesamtwerk ist eine Zeitchronik des 20. Jahrhunderts. Sein „Archipel Gulag“ ist nicht nur eine Beschreibung der Lager. Es ist eine Beschreibung des Lebens der Menschen vor ihrer Verhaftung, ihrer Befragung nach der Festnahme und ihrer Verbannung.

Und dann ist da die Kriegszeit in seinen Arbeiten. Ende der 1940er Jahre folgten Theaterstücke, in den 1950er Jahren Romane. Andererseits sah er die Zukunft voraus. Er dachte stets über Russlands Zukunft nach. Wenn er in den Westen kam, erkannte er Probleme, die auf den Westen zukommen würden. Anfang der 1990er Jahre, als er sich auf seine Rückkehr nach Russland vorbereitete, wies er auf die Gefahren hin, die die Welt im 21. Jahrhundert bedrohen würden. 1994 fragte ihn ein Journalist, ob die USA Russland überhaupt noch bräuchten. Und ob sie es im 21. Jahrhundert angesichts der großen Herausforderungen brauchen werden, sagte Solschenizyn. Nicht verstehen würden das nur jene, die nicht in die Zukunft blicken, sagte er. Ich bin fest davon überzeugt, dass auch diese Voraussage zutreffen wird.

Und seine Voraussagen für Russland?

Als Solschenizyn 1994 aus dem USA-Exil zurückkommt, wird er mit offenen Armen empfanden. Aber die Prozesse die er sieht, missfallen ihm. Er wird wieder publizistisch aktiv. Im Mai 1998 schreibt er seinen Essay „Russland im Absturz“, fünf Monate vor dem Staatsbankrott im August 1998 (die schwerste Wirtschafts- und Währungskrise in der jüngsten Geschichte Russland, d. Red.).

Dennoch bleibt unklar, warum Solschenizyn eine derart große Bedeutung zugemessen wird. Ist es ausschließlich wegen seiner schriftstellerischen Leistungen? Oder auch wegen seiner politischen Überzeugungen? Michail Gorbatschow mochte er nicht, Boris Jelzin noch weniger. Aber mit Putin schien er sich gut zu verstehen.

Michail Gorbatschows Umfeld war nicht sonderlich an Solschenizyn interessiert. Gorbatschow selbst hat wohl nichts von ihm gelesen. Ich weiß das, denn 1989, also zur Zeit Gorbatschows und in der Blütezeit der Freiheit, verbot man uns die Aufführung eines Theaterstücks im „Maly Teatr“, dessen künstlerischer Leiter ich damals war.

Was nun Boris Jelzin anbelangt, Anfang der 1990er, als er noch in den USA lebte, war Solschenizyn ihm positiv gesinnt, wohl weil er anfangs ja ziemlich viel versprach, was er aber dann nicht einhalten sollte. Jelzin steuerte Russland in den Abgrund und als er 1998 Solschenizyn auszeichnen wollte, lehnte dieser ab. Er sah eine Verelendung des Volkes, die es seit den 20er Jahren nicht mehr gegeben hatte. Er konnte dieses oligarchische System, wie es nach 1993 entstanden war, nicht gutheißen. Putin traf ihn Anfang der 2000er Jahre. Beiden Seiten teilten wohl die Überzeugung, dass Russland einen selbstständigen Weg gehen, sich bei seiner Entwicklung vor allem auf seine eigenen Kräfte stützen muss.

Was denken Sie, würde Solschenizyn heute über Russland sagen? Immerhin geht nach wie vor ein tiefer Riss durch das Land: Einer Handvoll extrem reicher Menschen stehen etliche Millionen Menschen gegenüber, die kaum über die Runden kommen.

Ich denke, er würde sich damit nicht abfinden können. Aber dieser Zustand ist keine Eigenschaft des Jahres 2018. Es ist das Ergebnis der Entwicklungen aus den Jahren 1992 bis 1998, die bisher nicht überwunden wurden, auch wenn bereits vieles unternommen wurde. Viele seiner Texte aus den 1990er Jahren, die leider wenig gelesen wurden, befassen sich mit diesem Thema. Das waren auch die Streitpunkte mit Jelzin: Einige wenige Reiche hier, massives Elend da. Diese Zustände bekämpfte er. Unser Ziel müsse stets sein, das Volk zu schonen, sagte er. Alles, was für das Volk getan wird, würde er unterstützen. Alles, was dem widerspricht, würde ihn empören.

Zur Person: Alexander Solchenizyn

Geboren wird Alexander Issajewitsch Solschenizyn am 11. Dezember 1918 in Kislowodsk im russischen Nordkaukasus. Vor dem Krieg studiert er Mathematik und Philosophie. 1941 wird er zum Kriegsdienst eingezogen. In der Roten Armee dient er als Batteriechef einer Artillerieeinheit. Februar 1945 wird er wegen Stalin-kritischer Äußerungen in seinem Brief an einen Freund verhaftet. Im Juli desselben Jahres wird er zu acht Jahren Arbeitslager und lebenslanger Verbannung verurteilt. 1946 bis 1950 verbringt er in einem Spezialgefängnis bei Moskau, in einem geschlossenen Konstruktionsbüro, wo er als Mathematiker arbeitet. Nach einem Streit mit dem Lagerchef wird er in ein Arbeitslager im Norden Kasachstans verbracht. Februar 1953 wird er entlassen und in die Verbannung in einem Dorf im Süden Kasachstan geschickt, wo er als Mathe- und Physiklehrer arbeitet. 1956, drei Jahre nach Stalins Tod, darf er aus der Verbannung zurück nach Russland. Rehabilitiert wird er jedoch erst 1957.

1962 wird seine wohl bekannteste Erzählung, „Ein Tag im Leben von Iwan Denissowitsch“, 1959 geschrieben, veröffentlicht. Die Reaktionen auf diese und andere Veröffentlichungen vonseiten seiner Schriftstellerkollegen, von Kritikern und anderen Lesern, die selbst in sowjetischen Lagern inhaftiert waren, bilden die Grundlage für Solschenizyns „Archipel Gulag“. 1964 veröffentlichen westliche Verlage erste, in der UdSSR der Zensur unterliegende Arbeiten Solschenizyns. Bereits 1963 hatte der damalige Parteichef Nikita Chruschtschow die Veröffentlichung des Romans „Der erste Kreis“ untersagt. Darin hatte Solschenizyn seine Erfahrungen im geschlossenen Konstruktionsbüro verarbeitet. 1969, ein Jahr nach der Veröffentlichung von „Der erste Kreis“ und „Krebsstation“ im Westen, wird er aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen.

1970 wird ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1973 gibt er seine Zustimmung zur Veröffentlichung des ersten Bands von „Archipel Gulag“ in Paris, nachdem er erfahren hat, dass eine seiner Mitarbeiterinnen sich umgebracht hat, weil der KGB sie dazu gezwungen hatte, das Versteck eines der Exemplare des Manuskripts preiszugeben. Im Januar 1974 erscheint „Archipel Gulag“. Das Politbüro der KPdSU beschließt die Ausweisung Solschenizyns. Am 12. Februar 1974 wird er festgenommen und ein Tag später in die BRD ausgeflogen. 1976 lässt er sich in den USA im Bundesstaat Vermont nieder. Erst 1994 kehrt er nach Russland zurück. Er stirbt am 3. August 2008.