Es ist ein außergewöhnlicher Moment, als am Nachmittag des 5. Mai um 14.30 Uhr im Palast von Großherzog Henri die Flügeltür zum Salon aufgeht, in dem er uns zum Interview empfängt. Der Hausherr lächelt sanftmütig – und begrüßt in seinem feudalen Etablissement jeden aus unserer fünfköpfigen Gruppe mit Handschlag. Sodann bittet er höflich, auf einem der edlen Sitzmöbel Platz zu nehmen. Der Hausherr macht es sich auf einer ockerfarbenen Chaiselongue bequem. Wasser und Fruchtsäfte werden gereicht.
Die Idee für diese Begegnung wurde sieben Wochen zuvor durch Dr. Annemarie Merrem, Lehrerin an der „Ecole internationale de Differdange et Esch-sur-Alzette“ (EIDE), und Gunnar Meinhardt geboren. Der deutsche Buchautor und Journalist der Welt am Sonntag hielt auf Einladung der promovierten Pädagogin an der Bildungseinrichtung Talkrunden und Workshops, ehe er von dort zur 144. Session des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) nach Griechenland reiste. Dabei entstand der Gedanke, den Großherzog, der seit 1998 Mitglied im IOC ist, um ein Interview mit zwei Primanern von der EIDE zu bitten, und zwar rund um das Thema Sport. Den Vorschlag fand Monseigneur interessant und stimmte ihm nach diversen Absprachen zu. Über eine Stunde nimmt er sich Zeit, um auf die Fragen von Leyla Uliczay und Ivan Lebboroni, die von ihrem Kommilitonen Noah Pfiff, der fotografierte, und Dr. Merrem begleitet wurden, zu antworten.
Tageblatt: Spüren Sie schon Vorfreude?
Grand-Duc Henri: Worauf?
Auf die Spiele der kleinen Staaten von Europa, an denen neben Luxemburg acht weitere europäische Länder mit weniger als eine Million Einwohner teilnehmen. Die sechstägige Veranstaltung in der andorranischen Hauptstadt Andorra la Vella beginnt am 26. Mai und feiert ihr 20-jähriges Jubiläum.
Oh ja, meine Vorfreude darauf ist riesengroß. Die Spiele sind mir ans Herz gewachsen. Seit der Premiere 1985 begleite ich sie. Zweimal – 1993 und 2013 – fungierten wir ja auch selbst als Gastgeberland. Und erfolgreich waren wir auch immer. Im ewigen Medaillenspiegel liegt Luxemburg hinter Island und Zypern immerhin auf Platz drei.

395 Gold-, 398 Silber- und 370 Bronzemedaillen stehen zu Buche.
Richtig. Das macht uns sehr stolz. Ich bin gespannt, wie wir diesmal abschneiden werden. Mit 166 Aktiven gehen in den 17 Sportarten so viele an den Start wie noch nie bei diesen Spielen.
Wenn wir wieder mal eine olympische Goldmedaille bekämen, wäre das großartig – und sie wird kommen, da bin ich mir sicher
Beim nächsten sportlichen Großereignis, den Olympischen Winterspielen im Februar in Mailand und Cortina d’Ampezzo, werden längst nicht so viele Luxemburger um Medaillen kämpfen. Wird unser Land dennoch mal wieder einen Olympiasieger feiern können? Den letzten gab es 1952 bei den Sommerspielen in Helsinki, als Mittelstreckler Josy Barthel über 1.500 Meter triumphierte.
Ja, es ist lange her, dass wir eine olympische Goldmedaille bejubeln konnten. Die letzte gab es übrigens nicht 1952, sondern 1984 bei den Paralympics durch den Schwimmer Henri Kaude. Bei den Paralympics im Vorjahr in Paris holte Tom Habscheid auch Bronze im Kugelstoßen. Die Medaillen bei den Paralympics zählen für mich gleichermaßen, beide Wettbewerbe gehören zusammen. Die Paralympics sind genauso wichtig wie die Olympischen Spiele. Wenn wir wieder mal eine Goldmedaille bekämen, wäre das großartig. Sie wird kommen, da bin ich mir sicher. Wann das sein wird, kann ich nicht sagen. Die sportlichen Bedingungen bei uns werden jedenfalls immer besser.
Wenn nicht bei den Winterspielen in Italien, dann vielleicht bei den Sommerspielen 2028 in Los Angeles? Wird Tischtennisspielerin Ni Xia Lian dort noch einmal in Aktion zu erleben sein – mit dann 65 Jahren?
Ich war dabei, als Ni Xia Lian bei den Sommerspielen im Vorjahr in Paris gespielt hat. Mit 61 Jahren hat sie ihr Match gewonnen und ist damit die älteste Tischtennisspielerin der Geschichte, die im Einzel siegte – das ist wirklich unglaublich! Die Atmosphäre im Stadion war fantastisch. Sie ist wie ein Vulkan, und das Publikum hat sie mitgerissen – es war großartig. Man braucht nicht unbedingt eine Medaille zu gewinnen, um im Sport etwas Besonderes zu vollbringen. Die Bewunderung wäre weltweit enorm, wenn Ni Xia Lian auch in Los Angeles dabei wäre.
Sie sind seit 1998 Mitglied im Internationalen Olympischen Komitee. Was bedeutet es Ihnen und was hat Sie zum Mitwirken bewogen?
Mein Vater war sehr lange Mitglied im IOC, über ein halbes Jahrhundert.
Er wurde am 4. September 1946 in Lausanne in das Gremium gewählt.
Stimmt. Und vor den Winterspielen 1998 in Nagano fragte ich mich, ob ich seine Mitgliedschaft übernehmen sollte, da ich immer sehr sportinteressiert war. Ich habe mich dann sehr gerne bei der Session in Nagano der Wahl gestellt, der dann auch zugestimmt wurde. Ich bin sehr froh, Mitglied des IOC zu sein. Es ist eine interessante Aufgabe, und ich kann vor allem dadurch noch mehr die Jugend durch den Sport unterstützen.
Seit 1999 gehören Sie im IOC der Solidaritätskommission an. Womit beschäftigen Sie sich konkret, was sind Ihre Aufgaben?
Für mich ist das eine der wichtigsten Kommissionen im IOC. Denn sie verwaltet eine Riesensumme an Geld, die von den Fernsehgeldern kommt – das sind hunderte von Millionen Dollar. Damit werden vor allem die Nationalen Olympischen Komitees unterstützt, die nicht so viel Geld haben. Wir unterstützen auch Sportler, die ohne unsere Hilfe wahrscheinlich nicht an Olympischen Spielen teilnehmen könnten. Das ist außerordentlich wichtig zur Stärkung der globalen olympischen Familie. Wir gründeten auch ein Flüchtlingsteam, was ein Riesenerfolg wurde. Es startete das erste Mal bei den Sommerspielen 2016 in Rio. Wir bewegten auch politisch einiges. Beispielsweise bei den Winterspielen 2018 in Pyeongchang, als es uns gelang, im Eishockey ein gemeinsames Team aus Spielerinnen von Nord- und Südkorea aufzubieten.
Was ist Ihr sehnlichstes Ziel?
Die Jugend der Welt zusammenzubringen, die Solidarität zwischen den jungen Menschen zu fördern und so zu versuchen, weltweit Frieden herzustellen. Über den Sport ist es am ehesten möglich, das zu erreichen. Über den sportlichen Wettstreit kann man alle zusammenbringen. Sogar im Vorjahr in Paris waren die Russen dabei, und wenn auch nur als neutrale Athleten. Die olympische Bewegung zu fördern, ist für mich das Wichtigste.
Worin sehen Sie die größte Herausforderung für Luxemburg im IOC?
Wir sind klein, aber wir sind präsent und das ist sehr wichtig. Wir versuchen, international zu agieren, auch über die Kontinente hinweg. Luxemburg spielt eine Rolle, genauso wie andere Länder. Die Ziele sind dieselben: den Sport und die Jugend zu fördern und die Werte des Sports zu vermitteln.
Seit dem 20. März gibt es zum ersten Mal in der über 130-jährigen Geschichte des IOC mit Kirsty Coventry eine IOC-Präsidentin. War das Ihre Wunschkandidatin als Nachfolgerin von Thomas Bach?
Ich bin glücklich darüber. Es war eine gute Entscheidung. Auch für das Gleichgewicht zwischen Männern und Frauen. Bei den Sommerspielen in Paris erlebten wir zum ersten Mal eine Geschlechterparität, das war fantastisch. Dass wir jetzt erstmals eine Frau als Präsidentin haben, ist ein starkes Zeichen.
Sie wird am 23. Juni am IOC-Hauptsitz in Lausanne eingeschworen. Werden Sie dabei sein?
Leider musste ich mein Kommen absagen, denn unser Nationalfeiertag geht nun einmal vor.
Wie viele Olympische Spiele haben Sie persönlich besucht und wie erleben Sie diese – als Sportfan oder als Repräsentant?
Nein, nein, ich bin Sportfan, ganz klar! (lacht) Ich versuche, alle Wettkämpfe anzuschauen, wobei jene priorisiert sind, an denen Luxemburger teilnehmen. Auch meine Frau und meine Kinder sind oft dabei, und wir unterstützen unser Team. Natürlich bin ich auch als IOC-Mitglied vor Ort. Denn dort haben wir stets auch Sessions, die über mehrere Tage gehen, aber in meinem Herzen bin ich Sportliebhaber.
Wie viele Olympische Spiele haben Sie nun aber erlebt?
Ich weiß es nicht, ich habe sie nie gezählt. Ich erlebte schon Spiele, als mein Vater noch IOC-Mitglied war. Meine ersten waren die von 1972 in München, die bis zu dem schrecklichen Attentat unheimlich eindrucksvoll waren
Persönlich habe ich mich immer gegen Krieg gestellt, ich bin Pazifist
Was war Ihr prägendstes Olympia-Erlebnis?
Paris 2024. Das war sehr beeindruckend. Die Spiele wurden über die Stadt verteilt ausgetragen, die Wettkampfkulissen an historischen Stätten waren unglaublich, die Stimmung der Leute auch. Es war sensationell, was wir dort erlebten. Das gilt aber nicht nur für die Olympischen Spiele, sondern auch für die Paralympics. Die besuchte ich auch mit meiner Frau und die waren genauso faszinierend. Besondere Highlights sind natürlich auch noch, wenn Luxemburger am Start sind. Ich denke nur an das Radrennen bei den Sommerspielen 2008 in Peking, als Andy Schleck denkbar knapp als Fünfter an einer Medaille vorbeifuhr.

Der zweitplatzierte Italiener Davide Rebellin wurde später wegen Dopings disqualifiziert, so dass Schleck noch auf Rang vier vorrückte.
Ich machte damals die Siegerehrung und hätte ihm so gerne eine Medaille umgehängt. Genauso wie 2012 in London der Judosportlerin Marie Müller, die den Kampf um Bronze verlor. So etwas nimmt mich sehr mit.
Haben Sie in diesen Momenten tatsächlich geweint?
Ja, ich war extrem berührt. Die Emotionen, die man durch den Sport fühlt, sind etwas ganz Besonderes.
Kann man sagen, dass der olympische Gedanke, Menschen aus aller Welt durch Frieden, Toleranz und Respekt zusammenzubringen, auch Ihr Leben geprägt hat?
Der olympische Gedanke prägt einen Menschen. Persönlich habe ich mich immer gegen Krieg gestellt, ich bin Pazifist. Der Sport zeigte mir zudem, dass man in dieser Hinsicht ernsthaft etwas bewegen kann, um die Welt besser zu machen. Der Sport verändert das Leben – er macht einen zu einem besseren Menschen.
Lassen Sie uns bitte auf den hiesigen Sport schauen. Seit März gibt es mit Michel Knepper einen neuen Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees. Welche Erwartungen knüpfen Sie an ihn und die neue Führung?
Ich setze darauf, dass kontinuierlich an der weiteren Verbesserung unserer vorhandenen Möglichkeiten gearbeitet und dabei die Jugend noch mehr eingebunden wird. Der Sport muss eine tragende Rolle in der Gesellschaft spielen. Unsere Einrichtungen für den Spitzensport sind schon exzellent. Die Möglichkeit, als Armeeangehöriger zu trainieren, ist ein großer Vorteil für Spitzensportler. Wir sollten jedoch noch früher ansetzen, Kinder bereits im Grundschulalter in Bewegung bringen – runter vom Sofa, weg vom Tablet. Im Präsidium sitzen viele ehemalige Sportler, die sehr gut wissen, was zu tun ist, um den Spitzensport weiterzuentwickeln, damit auch wir bald wieder einen Olympiasieger feiern können. Schön wäre, wenn wir mal eine Jugend-Olympiade ausrichten würden, doch das kann Luxemburg organisatorisch nur schwer stemmen.
Eine entscheidende Rolle spielt stets das Geld. Der luxemburgische Staat gibt 2025 rund 66 Millionen Euro für den Sport aus. Das sind immerhin 13 Millionen Euro mehr als im Vorjahr.
Geld allein bringt noch keine Medaillen. Es muss sinnvoll eingesetzt werden, wobei es selbstverständlich auch eine Kompensation für die Aktiven geben muss. Sie investieren nun einmal sehr viel Zeit und Energie, um große Leistungen zu bringen. Sie müssen von der finanziellen Unterstützung normal leben können, aber es darf nicht die treibende Kraft eines Athleten sein, mit dem Sport sein Geld zu machen.
Sie selbst sind sportlich sehr aktiv. Sie schwimmen, segeln, fahren Ski und Wasserski, spielen Tennis. Wie wichtig ist es, Sport zu treiben?
Sport ist essenziell für die Gesundheit, Psyche, Integration. Gerade bei der Jugend sehen wir zunehmende psychische Belastungen. Sport hilft, Stress abzubauen, soziale Kontakte zu knüpfen und Werte wie Disziplin und Fairness zu vermitteln. Ich selbst treibe regelmäßig Sport, drei- bis viermal pro Woche ist ein Muss.
Welche Sportart würden Sie gerne einmal ausprobieren?
Ich habe viele Sportarten und Disziplinen getestet, wobei der Hochsprung früher meine Stärke war.
Mein Vater war sportbegeistert, ich habe diese Leidenschaft übernommen und gebe sie weiter
Wie hoch sprangen Sie?
Ich bin über 1,85 Meter gefloppt. Mit 65 habe ich mir meinen Traum vom Kitesurfen erfüllt. Es war ein hartes, aber fantastisches Erlebnis. Künftig möchte ich einfach aktiv bleiben, vielleicht öfter Ski fahren, ohne Leistungsdruck, aber mit viel Freude.
Woher rührt Ihre große Begeisterung für den Sport?
Der Sportvirus steckt in unserer Familie. Mein Vater war sportbegeistert, ich habe diese Leidenschaft übernommen und gebe sie weiter. Schon im Vorschulalter nahm ich am Gymnastikunterricht teil. Meine Kinder sind auch sportlich aktiv, unter anderem als Fußballer und Rugbyspieler. Mein Sohn Felix ist sehr vielseitig talentiert, aber in Luxemburg ist oft das Problem, dass ein Kind zu vieles macht und sich nicht auf eine Sache konzentriert. Vermutlich hätte es Felix dann weit bringen können.
Am 3. Oktober werden Sie nach 25 Jahren als Staatsoberhaupt Ihr Amt an Ihren ältesten Sohn Guillaume übergeben. Werden Sie sich dann noch intensiver dem Sport widmen?
IOC-Mitglied darf ich bis zum 80. Lebensjahr bleiben und ich möchte mich im olympischen Gremium auch weiterhin nachhaltig einbringen. Und noch mehr Sport werde ich dann auch treiben – ganz gewiss. Ich freue mich auf diese neue Lebensphase.
Unser Interview-Team: Die perfekte Mischung aus Talenten und Profis

Gymnasiastin Leyla Uliczay: Die 18-Jährige geht in die S6 an der „Ecole internationale de Differdange et Esch-sur-Alzette“ (EIDE). Ihre Lieblingsfächer sind Kunst und Sprachen. Sie treibt viel Sport, am liebsten gemeinsam mit anderen oder mit ihrem Hund. Außerdem spielt sie Theater und reist gerne.
Gymnasiast Ivan Lebboroni: Der 20-Jährige besucht die S7 an der EIDE. Er wohnt auch in Differdingen. In seiner Freizeit spielt er Rugby beim Club Esch Les Furets. Zudem beherrscht er verschiedene Musikinstrumente. Seine Kunstfertigkeiten gibt er auch gerne zum Besten.
Gymnasiast Noah Piff: Der 17-Jährige steht vor seinem Abschluss an der EIDE. Seine große Leidenschaft ist die Videografie. Sein berufliches Ansinnen ist es, Videoproduktionen im Auftrag von Unternehmen oder Privatpersonen herzustellen und dafür auch Konzepte zu entwerfen.
Dr. Annemarie Merrem, promovierte Pädagogin: Die in Südafrika geborene Deutsche unterrichtet an der EIDE als Deutsch- und Englischlehrerin. Neben einem M.A. in Fremd- und Muttersprachenunterricht besitzt sie einen PhD in Sportpädadogik, beide von anerkannten Universitäten in den USA, an denen sie auch unterrichtete. Seit ihrer Jugend sportlich aktiv, genießt sie ihre engen Kontakte zu Spitzensportlern. Erfahrungen aus der Arbeit mit Leistungssportlern sind in einem Buch über mentale Fitness veröffentlicht.
Gunnar Meinhardt, diplomierter Sportwissenschaftler: Der gebürtige Ost-Berliner war Leistungssportler. Er arbeitet als Buchautor und Sportjournalist, ist Experte für Sportgeschichte und Olympische Spiele. Viele Jahre berichtete er als Korrespondent für die Deutsche Presse-Agentur (DPA) aus Amerika. Seit 2005 schreibt er für die Welt und Welt am Sonntag.
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