HandballLangsam und unattraktiv: Öffentliche Kritik an der Sieben-gegen-sechs-Regel

Handball / Langsam und unattraktiv: Öffentliche Kritik an der Sieben-gegen-sechs-Regel
Seit 2016 kann Chris Auger aus dem Spiel heraus Tore erzielen – dennoch würde der 37-Jährige die Regel abschaffen.  Foto: Gerry Schmit/Tageblatt-Archiv

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Leere Handballtore und Torhüter als Torschützen – daran hat sich der Zuschauer mittlerweile gewöhnt. Kurz vor Olympia 2016 wurde die Sieben-gegen-sechs-Regel eingeführt, die den Handball revolutionierte. Vier Jahre später sprechen sich viele internationale Stars der Handballszene gegen diese Regelung aus. Auch in Luxemburg erntet sie Kritik.

Viel Skepsis begleitete die Einführung der Sieben-gegen-sechs-Regel kurz vor Olympia 2016, die den angreifenden Mannschaften erlaubt, in Überzahl spielen zu können. Vier Jahre später erntet die Regeleinführung viel Kritik. Die taktische Neuerung, den Torwart durch einen Feldspieler ersetzen zu können, verlangsame das Spiel, erklärte zuletzt Deutschlands Handballnationaltrainer Alfred Gislason. „Ich glaube nicht, dass der Handball attraktiver wurde. Im Gegenteil!“, erklärte er dem Fachmagazin Handballwoche. Das Magazin startete eine Umfrage mit 38 internationalen Top-Trainern im Männer- und Frauenbereich – die große Mehrheit votierte für die Abschaffung der Regel.

Dr. Romain Schockmel, der Präsident der „Fédération luxembourgeoise de handball“, würde ebenfalls für die Abschaffung der Regel stimmen. „Sobald diese Regel Anwendung findet, fühle ich mich unwohl“, sagte Dr. Schockmel, der als Aktiver nicht unter dieser Regel spielte und den klassischen Handball bevorzugt. Die Regeländerung stößt bei ihm auf Unverständnis. „Wenn es zu Regeländerungen kommt, dann sollte vorher ein Problem bestehen“, sagte der Präsident des nationalen Handballverbandes. „Für mich ist es unmöglich zu erkennen, wo vorher das Problem war.“ Insgesamt führte die IHF 2016 fünf Regeländerungen ein. Die Sechs-Pass-Regel, bei der die verwarnte Mannschaft maximal sechs Pässe ausführen darf, um zum Torabschluss zu kommen, oder die Einführung der Blauen Karte, bei der ein schriftlicher Bericht in den Spielbericht aufgenommen wird und die Disziplinarkommission für weitere Maßnahmen verantwortlich gemacht wird, sieht er als positiv an. „Das hat alles Sinn und steigert die Attraktivität des Handballs. Aber die Sieben-gegen-sechs-Regel bringt nichts und trägt auch nicht dazu bei, dass das Spiel attraktiver, schneller oder interessanter wird.“ Dass es durch die Regel einen Zuschauerverlust geben könnte, fürchtet Dr. Schockmel jedoch nicht. Doch seine Meinung ist eindeutig: „Mich überzeugt das nicht. Wenn ich die Entscheidung treffen würde, ich würde die Regel sofort abschaffen.“

Torhüter als Torschützen

Vor allem abwehrstarke Teams werden durch die Möglichkeit, den Torwart bei Ballbesitz aus dem Spiel zu nehmen und dafür einen Feldspieler zu bringen, benachteiligt. Zwei-Minuten-Zeitstrafen bedeuten für die angreifende Mannschaft kaum noch einen Nachteil, weil sie die numerische Unterzahl auf dem Spielfeld ausgleichen können. Die Regeländerung hat den Handball maßgeblich verändert. 

Eine weitere grundlegende Änderung ist, dass sich Handballtorhüter seit 2016 vermehrt in die Torschützenliste eintragen können. Einer von ihnen ist Luxemburgs Nationalkeeper Chris Auger. Der 37-Jährige musste sich 2016 in einigen Bereichen verbessern und sein Training ändern. „Wir haben vor allem trainiert, auf das leere Tor zu werfen“, sagte Auger. „Es sieht zwar einfach aus, aber es ist schon eine Herausforderung, im Spiel auf ein leeres Tor zu werfen, das 40 Meter entfernt ist und nur drei Meter breit und zwei Meter hoch ist.“ Die Sprints, die für die Torhüter neu dazukommen, stellen für den Luxemburger kein Problem dar.

Der Torhüter des HB Käerjeng sagt aber, dass er gegenüber der Regel zwiegespalten sei: Zum einen würde diese Regel den klassischen Handball, der sich im Sechs-gegen-sechs abspielt, „denaturieren“, zum anderen würde sich der Handball durch Regeln, die viele taktische Neuerungen mitbringen, weiterentwickeln. „Dort, wo ich in den letzten Jahren gespielt habe, haben wir versucht, diese Regel umzusetzen“, sagte Auger. „Wenn es zu Beginn des Spiels ein- oder zweimal funktioniert hat, haben wir es weiter praktiziert. Aber sobald es mal nicht klappte, haben wir es sein lassen.“ 

Taktisch eine Herausforderung

Für Trainer stelle die neue Regel eine echte taktische Herausforderung in der Offensive und Defensive dar, erklärte Auger. „Du musst dich wochenlang auf diese Situationen vorbereiten. Ob es dann im Spiel praktiziert wird, muss bei der Besprechung vor einem Spiel abgestimmt werden. Während eines Spiels ist es viel zu riskant, kurzfristig zu entscheiden, ob man mit sieben Spielern spielt – es sei denn, es gibt eine Ausnahmesituation. Du hast zwar eine erhöhte Chance, ein Tor zu erzielen, aber du weißt auch, dass du sehr sicher ein einfaches Tor kassierst, wenn du den Ball verlierst.“ Auger weiß, dass vor allem Mannschaften, die auf dem Papier schwächer erscheinen, mithilfe dieser Regel für Überraschungen sorgen können. Als Paradebeispiel gilt die portugiesische Nationalmannschaft, die diese Regel perfektioniert hat und im Angriff fast das gesamte Spiel in Überzahl agiert. 

„Es wäre okay, wenn eine Mannschaft, die in den letzten Minuten im Rückstand ist, einen zusätzlichen Feldspieler einwechseln dürfte. Aber Teams, die diese Regel über die gesamte Spieldauer praktizieren? Das ist für den Handball und für die Zuschauer nicht schön“, sagt André Gulbicki, der Trainer vom HB Esch. Selbst hat er mit seiner Mannschaft die Sieben-gegen-sechs-Regel nur phasenweise angewendet. „Der Handball lebt von verschiedenen und interessanten Spielzügen oder von einem kreativen Spiel der Rückraumspieler. Durch die Überzahl ist das Spiel allerdings sehr statisch. Der Ball zirkuliert und die Offensive versucht, die Abwehr müde zu machen, um dann eine sichere Anspielstation zu finden.“ Wie auch Dr. Schockmel und Auger ist der Meistertrainer der Escher gegen die Regel. Der 58-Jährige ist der Meinung, dass der Handball mit der Einführung dieser taktischen Methode einen Rückschritt gemacht habe. „Dazu kommt, dass pro Spiel viele Tore fallen, bei denen die Spieler einfach auf ein leeres Tor werfen. Ich frage mich, was so etwas soll. Für den Zuschauer ist es sehr unattraktiv. Wenn ich die Entscheidung treffen würde, würde ich sagen, dass der Torhüter weder über die Mittellinie darf, noch dass er für einen Feldspieler eingewechselt werden dürfte.“ 

Beim Weltverband IHF stößt der Protest offenbar auf offene Ohren. „Wir werden uns die Argumente sehr intensiv anschauen“, sagte der Vorsitzende der IHF-Trainer- und Methoden-Kommission, Dietrich Späte, der Deutschen Presseagentur.