Tageblatt: Jamie, Sie sind durch Ihren Bruder zum Rennsport gekommen, richtig?
Jamie Chadwick: Ja, das stimmt. Ich hatte jedoch nie wirklich eine Motorsportkarriere im Hinterkopf. Es ergaben sich einfach einige Gelegenheiten und diese nahm ich dann wahr. Danach hatte ich wirklich das große Glück, dass ich in so vielen verschiedenen Motorsportkategorien an den Start gehen konnte.
Sie sind sowohl Formel-Rennwagen gefahren als auch GT und Sportwagen, ja sogar Wüstenrenner. Das ist doch sehr ungewöhnlich. Normalerweise konzentriert sich ein Rennfahrer auf eine Sparte, oder? Nach Ihren bisherigen Erfahrungen bevorzugen Sie eine dieser Motorsport-Kategorien?
Eigentlich liebe ich Formelautos und auch Rennwagen mit einem Dach. Ganz am Anfang meiner Karriere begann ich mit Sportwagen, doch sehr schnell bekam ich die Gelegenheit, in einem Formelwagen anzutreten. Hier lernt man in jungen Jahren sehr viel, weil man allein sein Auto abstimmen muss (und sich das Rennauto nicht mit anderen Piloten teilen muss; Anm. d. Red.). Nun trete ich wieder bei Langstreckenrennen an und auch dies hat seine speziellen Herausforderungen, zum Beispiel der Teamspirit und die Ausdauer über die lange Distanz. Es braucht hier viele Dinge, die zusammenpassen müssen, um zum Erfolg zu führen. Eigentlich liebe ich beide Motorsportarten und bevorzuge keine der beiden.
Dieses Jahr sind Sie zum ersten Mal bei den 24 Stunden von Le Mans angetreten. Sie teilten sich das LMP2-Auto unter anderem mit dem dreifachen Le-Mans-Gesamtsieger André Lotterer. Wie war diese Erfahrung für Sie?
Das war ein unglaubliches Erlebnis für mich. Zum einen die ganze Le-Mans-Atmosphäre und sich dann als Rookie noch zusammen mit so einer großen Endurance-Persönlichkeit wie André Lotterer das Cockpit zu teilen – einfach unbeschreiblich. Nicht nur ich, sondern auch unser ganzes IDEC-Sport-Team, wir haben sehr viel von ihm gelernt. Seine Langstrecken-Erfahrung ist einfach Gold wert.
Kommen wir zu einer anderen Serie, in der Sie dieses Jahr aktiv waren: die Formel E. Hier haben Sie gleich zweimal für das Jaguar-Team getestet.
Auch dies war eine besondere Erfahrung, da die Formel E doch etwas ganz Spezielles ist. Ich kann mich sehr glücklich schätzen, dieses Jahr das Gen3Evo-Auto des Konstrukteur-Weltmeisters zuerst in Jarama und dann in Berlin auszuprobieren. Ich hatte aber auch schon vor zwei Jahren das Gen2-Auto von Nio getestet und jetzt festgestellt, dass die Formel E eine enorme technische Entwicklung mitgemacht hat, besonders dieses Jahr mit dem viel stärkeren Gen3Evo-Renner mit Allradantrieb. Die kommende Gen4 wird wohl noch viel beeindruckender werden.

Bleiben wir bei den Formel-Autos und sprechen über die Jahre 2023 und 2024 in Amerika bei der Indy NXT, der Juniorklasse der IndyCars.
Das war schon sehr herausfordernd, besonders das erste Jahr. In Amerika wird ja auf drei verschiedenen Streckentypen gefahren: den traditionellen, permanenten Rennstrecken, den Stadtkursen und natürlich den Ovalen. Das zweite Jahr im Andretti-Team war schon viel besser. Hier gelang mir sogar ein Sieg.
Warum sieht man Sie dieses Jahr nicht weiter in der IndyCar am Start?
Es war wohl eine Kombination aus verschieden Ursachen. Ich hatte zwar einige Highlights in der Indy NXT, doch ich war keiner der Dominatoren der Serie, ich kam am Schluss nicht mal unter die Top drei. Wenn man die NXT-Serie nicht gewinnt, ist es sehr schwierig, in die IndyCars aufzusteigen. Ich hatte zwar etwas persönliches Sponsorengeld, aber sicherlich nicht genug, um dieses Jahr in der höchsten Klasse anzutreten. Ich war schon sehr dankbar, dass Andretti mich ihr IndyCar Auto hat testen lassen. Dort habe ich auch feststellen müssen, dass ein IndyCar nur mit sehr viel physischem Kraftaufwand zu fahren ist, und somit bin ich sehr froh, jetzt ein LMP2-Auto in der ELMS zu fahren.
In einer anderen Formel-Serie waren Sie sehr erfolgreich: Sie haben die W-Series, in der nur Damen antraten, gleich dreimal gewonnen: 2019, 2021 und 2022. Was hat Ihnen das gebracht?
Die Erfolge in der W-Series waren wirklich mein Durchbruch und haben mir erlaubt, mit der Rennfahrerei weiterzumachen und in Amerika Rennen zu fahren, was nicht so selbstverständlich war. Es gab eine große Entwicklung in den letzten zwei Jahren von der W-Series hin zur jetzigen F1-Academy (die Frauen-Serie, die von den Formel-1-Teams unterstützt ist und im Vorprogramm etlicher Formel-1-GP stattfindet; Anm. d. Red.), die jetzt eine viel größere Bühne hat. Die Tatsache, dass in der F1-Academy sehr junge Mädchen von 16 bis 17 Jahren antreten, wogegen an der W-Serien vor allem Pilotinnen in den 20ern oder sogar 30ern teilnahmen, erlaubt diesen, dass sie ihre Karriere viel besser aufbauen können und sich damit für sie viel bessere Möglichkeiten in höheren Klassen wie F4 oder GP3 ergeben. Ich glaube, es braucht noch etwas Zeit, damit sich das Ganze weiterentwickelt, aber es ist schön, dass die Formel-1-Teams die Initiative „Pilotinnen im Motorsport“ unterstützen.
Allgemein sieht man ja auch, dass heutzutage immer mehr Frauen an den Rennstrecken aktiv sind.
Ganz richtig, heute gibt es kaum noch Teams, bei denen nicht auch Frauen als Ingenieurin, Mechanikerin oder in der Strategie und Logistik arbeiten. Es ist schön, zu sehen, dass sich immer mehr Frauen für Motorsportberufe interessieren und dass jetzt schon immer mehr Frauen im Paddock zugegen sind. Dies wird sicherlich noch einen Domino-Effekt in der Zukunft haben.
Was können Sie uns noch über Ihre Einsätze in der Extreme-E, den elektrischen Wüsten-Rennern, sagen?
Ich fand es gut, dort etwas komplett Neues auszuprobieren. Es war schon sehr herausfordernd und ich habe mich mit etwas Rallyefahren darauf vorbereiten müssen. Dort habe ich auch die 19 Jahre junge Lia Block (Tochter von Ken Block, dem bekannten, verstorbenen amerikanischen Rallye-Piloten; Anm. d. Red.) kennengelernt. Als ich sah, wie natürlich sie diese Wüsten-Rallyeautos bewegte, habe ich mir gesagt, dass sie auch ganz gut in einem Formelauto sitzen könnte. Jetzt fährt sie für Williams in der F1-Academy.

Ihr jetziges Team IDEC-Sport wird ab 2026 das Genesis-LMDh-Auto in der „großen Klasse“ der WEC einsetzen. Werden Sie einer der Fahrer sein?
Ich bin an diesem Programm beteiligt und würde schon gern den LMDh-Rennwagen fahren. Ob ich jedoch (schon) nächstes Jahr als permanente Fahrerin des Genesis in der WEC dabei sein werde, das glaube ich eher nicht. Mein jetziges LMP2-Programm in der ELMS bereitet mich perfekt auf den Langstreckensport vor, aber es bleibt noch viel zu tun, denn es gab dieses Jahr nur wenige Rennen (sechs ELMS-Rennen). Ich werde wohl nächstes Jahr als weitere Vorbereitung nochmals in der ELMS antreten und hoffe ebenfalls, an einigen weiteren (Langstrecken)Rennen teilnehmen zu können. Mein Ziel ist ganz klar: Hypercars im Jahr 2027! Ich habe den Genesis LMDh, der in den letzten Wochen in Le Castellet ausführlich getestet wurde, gesehen und er sieht wirklich sehr vielversprechend aus. André (Lotterer, der das Auto getestet hat; Anm. d. Red.) hat mir bestätigt, dass auch der Sound umwerfend ist.
Da Sie ja schon so vieles erfolgreich ausprobiert haben, wird Jamie Chadwick die erste Frau sein, die permanent die Rennen der Formel E, Formel 1 oder WEC in einem Hypercar bestreiten wird?
Der Traum der Formel 1 wird es wohl nicht sein, aber vielleicht eher das World Endurance Championship (WEC) in einem Hypercar!
De Maart
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