Donnerstag6. November 2025

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Aleksandre Karapetian vom Progrès Niederkorn: „Ich geh‘ jetzt laufen“

Aleksandre Karapetian vom Progrès Niederkorn: „Ich geh‘ jetzt laufen“

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Progrès setzte sich am Donnerstag in beeindruckender Manier, und ohne Topscorer Aleksandre Karapetian, mit 2:0 beim aserbaidschanischen Vizemeister FK Gabala durch. Der Stürmer stieg aus politischen Gründen nicht ins Flugzeug und verfolgte das Europa-League-Hinspiel beim Public-Viewing in Niederkorn. Dort plauderte er auch aus dem Nähkästchen.

Normalerweise hätte er den linken Schuh zuerst angezogen, drei Kreuze gemacht und sich wie bei „Gladiators“ durchs Gesicht gerieben. Doch statt des gewohnten Rituals muss Aleksandre Karapetian eine ungewohnte Zuschauerrolle einnehmen, 4.500 Kilometer weit entfernt von seinen Teamkollegen. „Da hängt ein Banner mit der Aufschrift ‚No to racism‘. Unglaublich!“ Wegen der politisch angespannten Lage zwischen Armenien (für das „Kara“ zwei Länderspiele bestritt) und Aserbaidschan hatte sich der Verein für eine konfliktfreie Lösung entschieden und den 30-Jährigen zu Hause gelassen.

Nach dem Motto „Das Beste draus machen“ legt der Mittelstürmer dennoch seine gewohnt gute Laune an den Tag. Badelatschen, eine Tasse Kaffee und ein Gartenstuhl sollen an Europapokalabenden trotzdem ein einmaliges Erlebnis bleiben. „Ich habe den Jungs heute Morgen etwas in die Whatsapp-Gruppe geschrieben. Mein Herz blutet. Es ist hart …“
Pünktlich zum Einlauf der beiden Mannschaften schaltet auch der aserbaidschanische Sender nach Gabala. „Egal was der Trainer dir ein paar Minuten vor dem Spiel sagt, du hast einen Tunnelblick. Da fruchtet nix mehr“, erklärt der 30-Jährige. Anpfiff. Schnell noch ein Snapchat-Video hochladen, und los geht das ungewöhnliche Spiel.

Die Hausherren reißen das Geschehen gleich an sich. „Oh nein, ich mag keine Standards“, ärgert sich der Angreifer. Lilaj tritt die Ecke, doch Monroses Schuss stellt keine Gefahr dar (7.). „In Glasgow war ich dann immer nur am Zittern. Als Stürmer bist du genervt, weil du zurückkommen musst und viel Kraft liegen lässt. Aber alles gut gegangen … wir haben ja ‚Flausi‘ im Tor.“ Gurbanov (9.) und Adeniyi (10.) scheitern vor dem Kasten. Die Minuten vergehen und Karapetian bemitleidet einen seiner Teamkollegen ganz besonders, seinen Ersatz an vorderster Front: „Manu (Françoise) hatte noch keinen Ballkontakt, das wird schwer für ihn. Aber das wird es für mich nächste Woche wohl auch …“

Lässig, wie er eben ist, bringt ihn zwischendurch auch kein Anruf eines Arbeitskollegen wegen Shisha-Kohle aus der Ruhe. Sébastien Thill hat mittlerweile den ersten gefährlichen Schuss auf das gegnerische Tor abgegeben (20.), als der ungewöhnliche Zuschauer Stühle für seine Frau und die beiden Kinder anschleppt. Olivier Thill hat gerade zwei Gabala-Spieler umkurvt (30.), da reißt es Karapetian vom Stuhl: „Geil gemacht! Sie haben zwar mehr Ballbesitz, aber auch keine zwingenden Chancen. Ein 0:0 wäre super.“
Dann sinniert er schon über die Möglichkeiten für das Rückspiel: „Bestes Szenario wäre, wenn es hier regnen würde. Das sind die nicht gewohnt.“ In der Tat herrschten in Aserbaidschan am Donnerstag nicht weniger als 42 Grad. Dies würde sich etwa ab der 70. bemerkbar machen, blickt der Barbesitzer voraus. „Aber kleine Erfolgserlebnisse geben dir Luft. Wenn du merkst, dass du es nicht umsonst machst, kannst du 300 Minuten laufen“ … „Weg!“, ruft er Martins zu (33.), der eine Offensivaktion der Hausherren klärt.

Als die Kamerabilder den hochroten Kopf von Olivier Thill zeigen (40.), kann sich der ehemalige Nationalspieler ein Lachen nicht verkneifen: „Der sieht kaputt aus.“ Schon wieder klingelt das Handy: „Ja, ich schaue live. Wir spielen gut, bis auf ein, zwei Minichancen hatten sie nichts. Aber deutlich mehr Ballbesitz“, resümiert er die erste Hälfte in zwei Sätzen. 67:33, so das genaue Verhältnis der ersten 45 Minuten.
Dass mit Mario Mutsch einem der erfahrensten Spieler ein gravierender Fehler vor der Strafraumgrenze unterläuft (46.), ärgert „Kara“ besonders: „Vollkommen unnötig. Für so eine Dummheit werden wir vielleicht bestraft … ganz sch… Gefühl gerade …“ Trotzdem darf man in so einer Situation den Frust nicht am Mitspieler auslassen, erklärt er: „Da darf man keine Emotionen auf dem Platz zeigen.“ Nach dem kleinen Aufreger kommt Niederkorn wesentlich besser ins Spiel als der Gegner. Olivier Thill (50.) legt sich den Ball an der Eckfahne zurecht: „Er wird den Ball jetzt einfach reindrehen. Ah nein, doch nicht …“ Doch es bleibt keine Zeit für Erklärungen: „Wer war das?“, schreit Kara, „Almeida! Ich hab’ ja gesagt, dass der eine super Vorbereitung gemacht hat.“ Der 22-Jährige ist mustergültig von Sébastien Thill bedient worden (51., 1:0) und hat sich zwischen Torhüter und Verteidiger durchgeschoben. „Alter, verrückt! Ich rufe meinen Bruder an.“ Während der Torschütze 120 Sekunden später ein zweites Mal vor Keeper Bezotosniy auftauchte, schildert er ihm das Tor.

„Wann de ‚Kara‘ vir net hënnert …“

„Wann de Kara vir net hënnert, schéisse mär Goler“, jubeln die Fans. Sein fußballverrückter Sohnemann hat zwischendurch einen ganz dringenden Wunsch: „Ich besorge ihm schnell einen Ball und bin gleich wieder zurück.“ Zwei Minuten später sieht alles danach aus, als hätte er tatsächlich den Elfmeterpfiff des Unparteiischen verpasst. Geschickt von Sébastien Thill, wurde Martins im Sechzehner umgesäbelt. Wieder legt sich Olivier Thill den Ball zurecht (60.).

„Geil!“ schreit Karapetian aus dem Hintergrund. Die 2:0-Führung wirkt: „Ich bin jetzt deutlich entspannter. Aber die Elf auf dem Platz nicht. Die haben jetzt noch viel mehr Selbstbewusstsein bekommen und haben auch etwas zu verlieren. Dieses 2:0 wäre überragend!“ Spätestens jetzt hat Trainer Amodio allerdings auch ein Luxusproblem. Wird er einen Akteur seiner Siegermannschaft auf der Bank lassen, um die Tormaschine in die Startformation zu stellen? „Schwierig, ich weiß es nicht …“, ist Karapetian unentschlossen.
In Gabala läuft die Zeit währenddessen nur dem Gastgeber davon: „Egal, was der Trainer jetzt reinruft, die Jungs haben einen Tunnelblick. Klar, die Defensive hat gerade oberste Priorität, aber wir können ihnen mit kleinen Nadelstichen (S. Thill, 79.) immer wieder wehtun. Mach’ einfach als Titel: ’22 Stunden Reise, 42 Grad: Kein Problem‘.“
Auf dem Rasen entwickelt sich nun ein regelrechter Sturmlauf auf das Progrès-Tor: Als sich Torwart Flauss auf den Ball von Mustafazade (83.) legt, meint der Angreifer: „Gut. Liegen bleiben. Profis versuchen, so viel Zeit rauszuschlagen, wie sie können. Die müssen jetzt alles riskieren. Mann … 2:0, das hat nicht einmal Dortmund dort geschafft! Ich geh jetzt laufen, um mich vorzubereiten“, so ein fast fassungsloser Karapetian. 2015 hatte der BVB in der Bakcell-Arena ein Gegentor hinnehmen müssen (1:3).

Zum großen Entsetzen der 150 Progrès-Fans bleibt der Livestream ausgerechnet in der 89. hängen. „Nix passiert“, beruhigt sich Karapetian mit einem Blick in seine Lieblings-App. „Wer kümmert sich um den Laptop? Es bewegt sich niemand …“ Eine Minute später ist das Bild wieder hergestellt: „Die ganze Mannschaft hat heute super geackert. Ich bin stolz.“ Danach fehlen Karapetian die Worte. Er zückt das Handy und saugt die Stimmung mit der Kamera auf. Fernab von seinen Teamkollegen lässt er sich aber nicht zu einer Party im Klublokal hinreißen und will gleich zum Auto: „Ich glaub’, ich geh wirklich laufen …“


Trainerstimme

Paolo Amodio (Progrès): „Körperlich wird dieses Spiel sicher Spuren hinterlassen. Die Jungs haben alles aus sich herausgeholt. Um so ein Resultat zu erzielen, braucht es eine geschlossene Mannschaft. Sie haben alle Vorgaben umgesetzt. Monrose war brandgefährlich. Gegen Ende des Spiels haben fast immer zwei Leute gegen ihn verteidigt und wir waren zu fünft hintendrin. Aber man kann auch nicht alles verteidigen. Geschafft ist die Qualifikation keineswegs, man kann in solchen Spielen immer schnell ein frühes Gegentor kassieren …“