Nach der emotionalen Siegerehrung, während der erstmals seit Oktober 2021 nicht die niederländische Nationalhymne abgespielt wurde, bedankte sich Marie Schreiber bei den Personen aus ihrem Umfeld, die diesen Triumph überhaupt erst möglich gemacht haben. Bei ihrer Familie, bei ihrer Mannschaft SD Worx – Protime und bei allen Leuten, die sie unterstützen. „Ich kann meine Rennen fahren, ohne mir irgendwelche Gedanken machen zu müssen. Alles läuft einwandfrei“, erklärt die 21-jährige, die für ihr Alter eine erstaunliche Reife an den Tag legt. Der Profisportlerin geht es beim Ausüben dieser extrem anspruchsvollen Disziplin in erster Linie darum, Spaß zu haben und die Rennen mit einer gewissen Lockerheit anzugehen.
Ihr persönlicher Trainer Misch Wolter konnte aus zeitlichen Gründen lediglich am Sonntag, beim fünften Lauf des Weltcups in Zonhoven, vor Ort dabei sein. Bei ihrem Sieg am Vortag war er nicht an der Strecke. „Am Renntag bin ich sowieso von keiner großen Hilfe für Marie. Ihre Taktik besteht darin, einen schnellen Start hinzulegen, um danach frei fahren zu können. Nach einer halben Runde geht es dann darum, die Rennsituation aufgrund der unausbleiblichen ‚incidents de course‘, wie z. B. Stürzen, einzuschätzen. In Hulst ist alles perfekt gelaufen. Marie kam sehr gut ins Gelände rein, und hatte gleich einen Vorsprung, da sich ihre Konkurrentinnen dahinter zum Teil gegenseitig im Weg waren“, so der ehemalige Cyclocross-Nationaltrainer, der den Triumph seines Schützlings von zu Hause aus verfolgt hat.
Streckenverhältnisse spielen große Rolle
„Dieser Sieg kam nicht komplett unerwartet. Wir waren uns bewusst, dass, wenn bei einem bestimmten Rennen für Marie alles perfekt laufen würde und die Favoritinnen einen etwas schlechteren Tag erwischen würden, ein Sieg durchaus drin wäre. Das hatte man schon in Antwerpen gesehen, wo sie Dritte geworden war. Mich hat lediglich die Tatsache überrascht, dass es so früh schon geklappt hat. Dieser Sieg war absolut verdient“, so Wolter, der darauf hinweist, dass die jeweilige Strecke und die äußeren Verhältnisse dabei ebenfalls eine große Rolle spielen. „Dies wurde am Wochenende deutlich. In Hulst waren ganz andere Fahrerinnen vorn, als tags darauf in Zonhoven. Die Strecke in den Niederlanden kam den technischen Fähigkeiten von Marie, mit dem rutschigen Terrain, vielen Kurven, Schräghängen, knackigen Anstiegen, steilen Abfahrten, absolut entgegen. Dort fand sie schnell zu ihrem Rhythmus, im Gegensatz zur Sandstrecke in Zonhoven, die ich eher als ‚Murkscross‘ bezeichnen würde. Dort ist vor allem Krafteinsatz gefragt. Dies liegt Marie nicht so gut“, erklärt Wolter, der betont, dass er mit dem siebten Platz in der ‚Sandgrube‘ von Zonhoven sehr zufrieden ist.
Wenn sie noch ein bis zwei Straßensaisons mehr in den Beinen hat, wird sich ihre Ausdauer noch weiter verbessern. Leistungssprünge sind sicherlich noch drin. Technisch fährt sie bereits auf einem sehr hohen Niveau.

In Hulst sei Schreiber am Tag zuvor, auch von der Einstellung her, ein quasi perfektes Rennen gefahren. „Ihr sind lediglich zwei kleine Fehler unterlaufen, die sie gut gemeistert hat, und dadurch kaum Zeit verloren hat.“
Im Vergleich zur vergangenen Saison habe Schreiber vor allem im physischen Bereich Fortschritte gemacht. „Wenn man sich ihre Trainingswerte anschaut, befindet sie sich in einem Bereich, der es ihr erlaubt, regelmäßig in die Top fünf zu fahren“, so der 44-Jährige. Was ihre Konkurrentinnen anbelangt, glaubt der Spezialist, dass im Gegensatz zu Puck Pieterse, die erst seit Kurzem wieder im Rennsattel sitzt, Fem Van Empel und Ceylin Alvarado auf dem gleichen Level unterwegs sind wie in der Vorsaison. Natürlich gelte es die nachrückenden Fahrerinnen im Auge zu behalten. „Für die Zukunft sieht es ganz gut aus. Wenn sie noch ein bis zwei Straßensaisons mehr in den Beinen hat, wird sich ihre Ausdauer noch weiter verbessern. Leistungssprünge sind sicherlich noch drin. Technisch fährt sie bereits auf einem sehr hohen Niveau“, gibt Wolter, der Schreiber seit dem Jahr 2019 trainiert, zu verstehen.
Druck von außen steigt
„Wenn sie sich so weiterentwickelt, wird sie auch in ihrem Team mehr Verantwortung übernehmen. Ich denke, dass sie in der kommenden Straßensaison ihre Karten bei dem einen oder anderen Rennen ausspielen kann“, hofft Wolter. Davor ist der Fokus jedoch komplett auf die kommenden Wochen gerichtet, mit der Cyclocross-WM im französischen Liévin als Saisonhöhepunkt. Dort wird Marie Schreiber, aller Voraussicht nach, ein letztes Mal um den Titel bei den Espoirs fahren. „Hulst war ein befreiender Sieg für Marie. Sie kann die kommenden Herausforderungen jetzt in aller Ruhe in Angriff nehmen. Sie ist sich bewusst, dass der Druck von außen, u. a. auch von einem bestimmten Presseorgan, weiter zunehmen wird. Damit kommt Marie aber ganz gut klar, auch weiß sie negative Titelzeilen richtig einzuordnen“, so Wolter. „Vor allem weiß sie, dass sie für sich fährt und nicht für die anderen. Sie ist sich ebenfalls bewusst, dass, wie allgemein im Sport, auch in ihrer Disziplin von heute auf morgen alles vorbei sein kann.“
Wolter wünscht sich zudem, dass der Sieg in Hulst, Schreibers sportlich wertvollster bislang, „dem Nachwuchs deutlich macht, dass man solche Siege im Cyclocross auch als Luxemburger erreichen kann. Ich hoffe vor allem, dass sich die Erfolge positiv auf den Damenradsport allgemein auswirken werden und die Nachwuchstalente zusätzlich motivieren. Der Weg nach oben ist natürlich mit einer enormen Trainingsarbeit verbunden, im Cyclocross vielleicht noch mehr als auf der Straße.“
Goldchancen bei 30 Prozent
Für seine Musterschülerin erhofft sich der hauptberufliche Lehrer des Sportlycée, „dass es Marie gelingen wird, diese Leistung zu bestätigen und jedes Jahr vielleicht einen Weltcup zu gewinnen. Damit könnten wir sehr zufrieden sein“, so Wolter, der all diejenigen, die Schreiber jetzt, nach ihrem Premierensieg, als Topfavoritin auf den U23-WM-Titel ansehen, sicherlich mit folgender Prognose überraschen wird: „Ihre Chancen, um in Liévin Gold zu holen, schätze ich aktuell auf 30 Prozent ein. Ihre Hauptkonkurrentinnen sind Zoe Backstedt (GBR) und Leonie Bentveld (NL). Vieles wird von der Strecke abhängen, die wir uns demnächst zusammen mit Jempy (Drucker) anschauen werden, damit ihr Trainingsprogramm entsprechend angepasst werden kann“, erklärt Wolter abschließend, mit dem Blick auf das Saisonhighlight am Samstag, dem 1. Februar 2025, gerichtet. Im Weltcup geht es derweil schon an diesem Donnerstag mit dem Rennen im belgischen Gavere weiter.
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