Ein europäisches Land ohne Flughafen und Züge, aber mit Millionen von Besuchern. Ohne Armee, aber mit zwei Staatsoberhäuptern. Und ein Territorium, das nicht zur Eurozone oder zur EU gehört, in dem aber trotzdem – dank Währungsabkommen – jeder mit dem Euro zahlt. Willkommen im eigenwilligen Mikrostaat Andorra, in dem nur 83.000 Menschen leben.
Und als wäre all das nicht schon außergewöhnlich genug, rückt das Land nun mit einem sportlichen Ereignis ins Rampenlicht, das genauso speziell ist wie sein Staatsmodell: Andorra wird in diesen Tagen zur Bühne der „Spiele der Kleinstaaten Europas“.
Diese Mini-Olympiade (vom 26. bis 31. Mai) bringt alle zwei Jahre Spitzensportler aus neun Ländern zusammen – Luxemburg, Monaco, Malta, Montenegro, San Marino, Liechtenstein, Zypern, Island und natürlich Andorra. Teilnahmebedingung: weniger als eine Million Einwohner und ein eigenes Olympisches Komitee.
Zwei Staatsoberhäupter leben im Ausland
Und doch ist keiner dieser Kleinstaaten so einzigartig organisiert wie das Gastgeberland selbst. So leben zum Beispiel Andorras Staatsoberhäupter in den beiden Nachbarländern. Die repräsentativen Spitzen sind der Präsident Frankreichs und der Bischof von Urgell im spanischen Katalonien. Die beiden bilden ein Duo, das in Andorra „Coprínceps d’Andorra“ (Kofürsten Andorras) heißt und aus mittelalterlichen Machtkompromissen übrig geblieben ist.
Diese merkwürdige Konstellation im „Principat d’Andorra“, dem Fürstentum Andorra, funktioniert erstaunlich reibungslos. Die Tagespolitik übernimmt ein demokratisch gewähltes Parlament mit 28 Mitgliedern und eine Regierung. Ministerpräsident ist seit 2019 Xavier Espot Zamora von der konservativen und proeuropäischen Partei Demòcrates per Andorra.
Zu den Besonderheiten gehört weiterhin, dass es keine militärischen Streitkräfte gibt. Für den Ernstfall verlässt man sich auf Frankreich und Spanien – oder einfach auf gute Nachbarschaft. Tatsächlich ist Andorra eines der friedlichsten Länder Europas.
Größte Bedrohung: Erderwärmung
Die größte Bedrohung? Die globale Erderwärmung, die im Bergstaat mit einer mittleren Landeshöhe von knapp 2.000 Metern zu einer Abnahme der Schneedecke und einer Verkürzung der Skisaison führt. Der Wintersport ist der wichtigste Wirtschaftszweig.
Andorra hat vermutlich die meisten Skipisten pro Einwohner weltweit. Das Skigebiet Grandvalira bietet allein 215 Kilometer an Abfahrten – damit gehört es zu den größten Skigebieten Europas.
Lange Zeit war Andorra eine Finanzoase mit diskreten Banken und Nullsteuersätzen – bei Steuerfahndern berüchtigt, bei Vermögenden beliebt. Doch der Druck der internationalen Gemeinschaft wuchs.
83.000
In Andorra leben rund 83.000 Menschen – das Land zählte 2024 aber knapp zehn Millionen Besucher
Heute ist Andorra kein klassisches Steuerparadies mehr: Es gibt Einkommenssteuer, eine Mehrwertsteuer von 4,5 Prozent und zahlreiche fiskalische Abkommen mit den Nachbarländern. Wirtschaftlich und politisch orientiert sich Andorra zunehmend an EU-Standards.
Die Steuersätze sind allerdings zur Freude von Einwohnern und Besuchern immer noch niedrig. Das zieht gutverdienende Internet-Influencer, Digital-Unternehmer und Krypto-Fans an, die sich gerne in Andorra niederlassen. Und es kommen Millionen von Schnäppchenjägern, die zum Einkaufen anreisen.
Zwar sind die meisten Konsumgüter heute in Andorra auch nicht mehr viel billiger als in den europäischen Nachbarländern. Aber bei Tabak, Alkohol, beim Tanken und bestimmten Luxusartikeln kann man dank geringerer Verbrauchssteuern immer noch Geld sparen.
Trilinguale Bildung gehört in dem Land, das von Frankreich und der spanischen Region Katalonien umgeben ist, zum Alltag. Katalanisch ist die Amtssprache, aber auf der Straße hört man viel Spanisch oder Französisch.
Bekannte Klagen und klare Bergseen
Andorras größte Schwäche ist seine wirtschaftliche Abhängigkeit. Eine schlechte Skisaison kann finanzielle Kälte bringen. Zur sozialen Zeitbombe werden auch in diesem Land die explodierenden Immobilienpreise. Für Niedrig- und Normalverdiener wird es immer schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden.
Trotz aller Fortschritte bei der Digitalisierung des öffentlichen Lebens klagen viele Menschen im Ministaat über langsame Bürokratie, Funklöcher in den Bergen und altmodische Verwaltungsprozesse. Selbst beim Mobilfunk zeigt sich dieser Rückstand: Andorra gehört nicht zur europäischen Roamingzone – wer hier ohne lokale SIM-Karte surft oder telefoniert, zahlt kräftig drauf.
Und doch hält das kaum jemanden vom Kommen ab. 2024 zählte Andorra stolze 9,6 Millionen Besucher. Auch im Sommer zieht das Pyrenäenland Gäste an: Klare Bergseen, duftende Wälder und pittoreske Dörfer machen den Ministaat zum stillen Sehnsuchtsziel für Naturliebhaber.
„Andorra ist wie ein Balkon Europas – klein, hoch gelegen, mit atemberaubender Aussicht, aber kaum jemand schaut wirklich hin“, heißt es in einem oft zitierten geflügelten Wort.
Mit der Mini-Olympiade der Kleinstaaten richtet sich der Blick nun doch für ein paar Tage auf das Fürstentum: Und dabei wird schnell klar – klein ist in Andorra nur die Fläche. Ehrgeiz, Gastfreundschaft und Selbstbewusstsein reichen bis in die höchsten Gipfel.
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