Freitag24. Oktober 2025

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Schmerzhafte Ohrfeige für US-JustizWikileaks-Gründer Assange wird nicht ausgeliefert

Schmerzhafte Ohrfeige für US-Justiz / Wikileaks-Gründer Assange wird nicht ausgeliefert
„Free Julian Assange“: Unterstützer jubeln nach dem Urteil Foto: AFP/Daniel Leal-Olivas

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Eine britische Richterin urteilt, dass der Australier nicht in die USA ausgeliefert wird. Er sei „ein depressiver, verzweifelter Mann“. Ein Freibrief für den Whistleblower ist der Urteilsspruch trotzdem nicht.

„Free Julian Assange“, brüllten die Demonstranten am Montagmorgen vor dem zentralen Londoner Kriminalgericht. Dieser Wunsch geht zwar einstweilen nicht in Erfüllung. Doch konnte der Wikileaks-Gründer am Montag in seinem Kampf gegen die US-Justiz einen bedeutenden Sieg verbuchen: Mit Blick auf die harschen Bedingungen in US-Gefängnissen lehnte die Londoner Bezirksrichterin Vanessa Baraitser die Auslieferung des 49-Jährigen ab. Die Sicherheit des depressiven und suizidgefährdeten Aktivisten sei jenseits des Atlantiks nicht gewährleistet. Weil die US-Vertreter unmittelbar Berufung einlegten, bleibt Assange zunächst weiter in britischer Haft.

Die ersten 50 Minuten der mit monotoner Stimme vorgetragenen Urteilsbegründung hatten bei vielen Beobachtern den Eindruck der Beweisaufnahme im Herbst bestärkt: Nüchtern wog die erfahrene Juristin die diversen Argumente von Verteidigung und Anklage ab, am Ende schien alles für eine Auslieferung zu sprechen. Dann kam Richterin Baraitser auf Assanges Gesundheit zu sprechen.

Assanges Gesundheit in den USA gefährdet

Der Australier leidet am Asperger-Syndrom, einer Erkrankung des autistischen Spektrums, sowie an Depressionen. Vor knapp 30 Jahren wurde er in seiner Heimat wegen eines Selbstmordversuchs in einer psychiatrischen Klinik behandelt, in seiner Londoner Gefängniszelle wurde bei einer Durchsuchung eine halbe Rasierklinge sichergestellt. Beim katholischen Gefängnisgeistlichen habe der Gefangene um Absolution gebeten sowie kürzlich ein Testament aufgesetzt, referierte Baraitser und zitierte die Gutachten von vier Psychiatern, darunter Professor Michael Kopelman vom Londoner King’s College: Assange leide an schweren Depressionen mit psychotischen Schüben. „Er ist ein depressiver und manchmal verzweifelter Mann.“

„Verzweifelter Mann“:  Assange im November 2011 in London
„Verzweifelter Mann“:  Assange im November 2011 in London Foto: dpa/PA Wire/Dominic Lipinski

Ausführlich widmete sich die Richterin den „besonderen Behandlungsmethoden“, der Hochsicherheitsgefangene in den USA ausgesetzt sind. Dabei wird jeglicher Kontakt mit Mitgefangenen unterbunden, Sport findet in einem speziellen Käfig statt, pro Monat sind lediglich zwei private Telefonate möglich. Solche Bedingungen hätten „abträgliche Wirkung“ auf Assanges Gesundheit, die Auslieferung wäre deshalb falsch. „Ich ordne seine Entlassung an.“

Unbewegt wie zuvor nahm Assange – wie stets korrekt in dunklem Anzug und Krawatte gekleidet – das positive Urteil entgegen, lediglich die dauernd knetenden Hände verrieten seine innere Anspannung. Hingegen weinte seine Lebenspartnerin und Mutter zweier gemeinsamer Kinder Stella Moris vor Glück. Allerdings erhob die US-Regierungsvertreterin trotz der schweren Ohrfeige für ihre Strafjustiz sofort Einspruch; beide Seiten hatten bereits vorab angekündigt, sie würden das Verfahren notfalls bis zum britischen Supreme Court und dem Straßburger Menschenrechtsgerichtshof ausfechten. Nun will Baraitser am Mittwoch entscheiden, ob der psychisch kranke Aktivist für die womöglich jahrelange Dauer weiterer Rechtsstreitigkeiten in Haft bleiben muss.

Es geht hier nicht um das Recht auf freie Meinungsäußerung

Richterin Baraitser kritisiert Assanges Vorgehen

Wikileaks hatte 2010 und 2011, teilweise in Zusammenarbeit mit renommierten Medien wie New York Times, Guardian und Spiegel, US-Geheimdokumente veröffentlicht. Dadurch kamen Kriegsverbrechen amerikanischer Streitkräfte in Afghanistan und Irak ans Licht. Assange soll die später wegen Geheimnisverrats verurteilte Soldatin Chelsea Manning zum Kopieren der 250.000 diplomatischen Depeschen angestiftet haben, Wikileaks bestreitet dies. Dem 49-Jährigen drohen in den USA wegen Computer-Hackings und Spionage bis zu 175 Jahre Freiheitsstrafe; realistischer, so die US-Regierungsvertreter, sei eine Zeitspanne von vier bis sieben Jahren.

Assange sei über die normale, von der US-Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Tätigkeit eines investigativen Journalisten hinausgegangen, bilanzierte Baraitser. „Es geht hier nicht um das Recht auf freie Meinungsäußerung.“ Ausführlich zitierte die Richterin die Distanzierungen von Assanges Methoden durch jene Medien, die ursprünglich intensiv und vertrauensvoll mit ihm zusammengearbeitet hatten.

Klassische Medien hatten sich distanziert

Auch sämtliche Einwände der Verteidigung gegen das Vorgehen der US-Strafverfolger wies Baraitser zurück. Assanges Taten würden auch nach englischem Recht Straftatbestände darstellen. Ein unfaires Vorgehen sei ebenso wenig erkennbar wie politische Einflussnahme durch US-Präsident Donald Trump. Die Verteidigung hatte darauf abgehoben, dass in der Amtszeit von Barack Obama bis Januar 2017 keine Anstalten gemacht worden waren, die Auslieferung zu erwirken. Erst unter Trump wurde das Verfahren angeschoben, in den vergangenen zwei Jahren reichten die amerikanischen Staatsanwälte mehrere zusätzliche Anklagepunkte nach.

Vor Glück geweint: Lebenspartnerin Stella Moris spricht in London zu den Medien
Vor Glück geweint: Lebenspartnerin Stella Moris spricht in London zu den Medien Foto: dpa/PA Wire/Dominic Lipinski

Der Beschuldigte hatte sich im Juni 2012 der vom britischen Supreme Court angeordneten Auslieferung nach Schweden wegen angeblicher Sexualdelikte entzogen, indem er in der Londoner Botschaft von Ecuador um Asyl bat. Erst nachdem in dem lateinamerikanischen Land ein Machtwechsel stattgefunden hatte, konnte Scotland Yard im April 2019 Assange in der Botschaft festnehmen. Anschließend verbüßte er eine knapp einjährige Haftstrafe wegen eines Verstoßes gegen die Kautionsauflagen. Seit gut einem Jahr sitzt er in Auslieferungshaft im Gefängnis Belmarsh. Weil dort auch viele islamistische Terroristen ihre Strafen verbüßen, wird das furchterregende Bauwerk gern als Hochsicherheitstrakt bezeichnet. Assange bewohnt aber eine Zelle im „normalen“ Gefängnis.