Es ist drei Uhr nachts, als es im Hotel Melia Bali hektisch wird. Beim deutschen Kanzler Olaf Scholz klingelt das Telefon. Sein außenpolitischer Berater überbringt keine guten Nachrichten: Es gab einen Raketeneinschlag in einem polnischen Dorf nahe der Grenze zur Ukraine. Bei dem Einschlag des Geschosses in dem Dorf Przewodow kamen zwei Menschen ums Leben.
Auch an anderer Stelle wird es auf Bali hektisch. US-Präsident Joe Biden wird im Grand Hyatt Hotel ebenfalls geweckt und ruft für den Morgen eine Notfallbesprechung von Staats- und Regierungschefs der G7 und der NATO am Rande des G20-Gipfels ein. Auch er telefoniert mit dem polnischen Präsidenten und unterstreicht das „eiserne Bekenntnis der Vereinigten Staaten zur NATO“.
Die polnische Regierung bestätigt währenddessen den Einschlag einer Rakete „aus russischer Produktion“ auf polnischem Staatsgebiet. Die Situation ist mit einem Mal unerwartet brenzlig. Es wäre der erste Einschlag russischer Waffen in einem NATO-Mitgliedsland seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. In Artikel 5 des NATO-Gründungsvertrages ist der sogenannte Bündnisfall geregelt, laut dem sich die NATO-Staaten im Falle eines Angriffs auf eines ihrer Mitglieder zum Beistand verpflichten.
Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj beschuldigt wenig später Russland, Raketen auf Polen abgefeuert und damit eine „sehr erhebliche Eskalation“ herbeigeführt zu haben. Aus Moskau heißt es dagegen, es habe keine Angriffe mit russischen Waffen auf Ziele nahe der Grenze gegeben.
Raketenangriffe auf Ziele überall in der Ukraine
Auf Bali geht die Spurensuche weiter. In Bidens Hotel trifft sich die vom US-Präsidenten einberufene Gruppe hinter verschlossenen Türen. Die Türkei, NATO-Mitglied, fehlt aus logistischen Gründen. An den Gesprächen nehmen auch Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez, der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte sowie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel teil. Die Signale aus dem Raum sind zurückhaltend.
Biden sagt nach dem Treffen, es sei nach den derzeit vorliegenden Informationen „unwahrscheinlich“, dass die Rakete von russischem Boden aus abgeschossen worden sei. Er werde dafür sorgen, „dass wir genau herausfinden, was passiert ist. Dann werden wir gemeinsam unseren nächsten Schritt festlegen.“
Scholz spricht wenig später gegenüber deutschen Journalisten von einem „schrecklichen Vorfall“. Es sei notwendig zu klären, „wie es dazu gekommen ist, dass diese Zerstörungen dort angerichtet werden konnten“. Der SPD-Politiker weist darauf hin, dass Raketenangriffe auf Ziele in der Ukraine überall zu verzeichnen seien. „Das ist keine akzeptable Form der Kriegsführung in diesem ohnehin ungerechtfertigten Krieg. Das findet auch statt, während wir hier bei dem G20-Gipfel alle gemeinsam zum Ausdruck gebracht haben, dass dieser Krieg zu Ende gehen soll und dass Russland seine Truppen zurückziehen und diese brutalen Attacken einstellen soll.“
Kurz danach werden am Gipfelort Hinweise öffentlich, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine handelt. Das Geschoss sei von ukrainischen Truppen abgefeuert worden, teilen US-Vertreter mit. Vorläufige Prüfungen deuteten darauf hin, dass es sich um eine Flugabwehrrakete gehandelt habe, die inmitten massiver russischer Angriffe auf die Energie-Infrastruktur in der Ukraine auf eine russische Rakete abgezielt habe. Kurzes Aufatmen bei den Delegationen auf Bali.
Fast alle verurteilen russischen Krieg in der Ukraine
Eigentlich war man auf deutscher Seite am Ende des ersten Gipfeltags sehr zufrieden zurückgeblieben. Denn Russland war während des Gipfeltreffens auf Bali stark unter Druck geraten – nicht nur aus dem Westen, sondern in der gesamte Gruppe der G20. Beim Gipfel verzichteten bisherige Unterstützer wie China und Indien darauf, eine gemeinsame Abschlusserklärung zu blockieren. In dem am Dienstag praktisch fertig ausgehandelten Papier heißt es: „Die meisten Mitglieder verurteilten den Krieg in der Ukraine aufs Schärfste“.
Auch Moskau trägt die Erklärung mit – weil darin ausdrücklich betont wird, dass nicht alle G20-Länder die Verurteilung teilen. Das Papier wurde an diesem Mittwoch zum Abschluss des Gipfel von den 20 Delegationen verabschiedet. Russlands abweichende Haltung wurde ebenfalls zu Protokoll genommen.
Scholz spricht dann zum Abschluss auch von einem „außerordentlichen“ G20-Gipfel. „Dass es hier Verständigungen gegeben hat, die weit über das hinausreichen, was zu erwarten war, das bleibt der Erfolg dieses Gipfels.“ Alle Mitglieder hätten klargestellt, dass der Einsatz von Atomwaffen inakzeptabel sei. Alle hätten diese rote Linie „ganz kräftig“ gezogen. Auf Bali verhielten sich die G20 also so, dass ein dritter Weltkrieg aus Versehen vermieden wurde. Auch das war ein Signal des Zusammenhalts.
De Maart
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