HandelVier Monate nach dem Brexit warnt Brüssel vor dem „No Deal“

Handel / Vier Monate nach dem Brexit warnt Brüssel vor dem „No Deal“
Macht sich ernste Sorgen: EU-Chefunterhändler Michel Barnier  Foto: AFP/Kenzo Tribouillard

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Vier Monate nach dem Brexit stecken die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit Großbritannien in der Sackgasse. Premier Johnson hofft nun auf ein Spitzentreffen mit EU-Kommissionschefin von der Leyen.

Das britische Wort „No Deal“ hatte die EU eigentlich aus ihrem Wörterbuch gestrichen. Schließlich ist Großbritannien am 31. Januar aus der Union ausgetreten – mit einem ordentlichen Vertrag. Doch nun geht schon wieder die Angst vor einem „No Deal“ in Brüssel um, sogar Chefunterhändler Michel Barnier macht sich ernste Sorgen.

„Großbritannien hat einen Schritt zurück gemacht – zwei, drei Schritte zurück gemacht – von seinen ursprünglichen Zusagen“, sagte Barnier der britischen Sunday Times. Sollte sich London bei den laufenden Gesprächen über ein Freihandelsabkommen nicht am Wortlaut der Vereinbarungen von 2019 orientieren, werde es keinen neuen Deal geben. Es klang wie eine Drohung – und zeigt, wie angespannt die Lage ist. Denn bisher galt der Franzose Barnier als Gentleman, der höchstens sanften Druck ausübt. „The clock ist ticking“ – die Uhr tickt – war jahrelang sein Lieblingsspruch. Nun greift er zu härteren Bandagen, um Fortschritte in den festgefahrenen Gesprächen zu erzwingen.

Auch im Europaparlament wächst die Nervosität. „Wir stehen kurz vor dem Moment der Wahrheit“, erklärte der SPD-Handelsexperte Bernd Lange zum Auftakt der vierten und wohl letzten Verhandlungsrunde, die per Videoschalte läuft. Sollte sich London auch diese Woche nicht bewegen, „müssen wir uns auf einen ungeregelten, harten Brexit zum 1. Januar 2021 einstellen“, warnt Lange. Am 31. Dezember endet die vereinbarte einjährige Übergangsfrist. Wenn bis dahin kein Handelsabkommen steht, so werden die strikten Regeln der Welthandelsorganisation WTO angewendet. Dies würde neue Zollschranken und das Ende des freien Zugangs zum EU-Binnenmarkt bedeuten – mit Chaos an den Grenzen und massiven Einbrüchen beim Handel.

London kann die Übergangsphase zwar noch verlängern, doch dafür bleibt nur bis Ende Juni Zeit. Der britische Premier Boris Johnson hat eine Verlängerung zudem mehrfach ausgeschlossen. Johnson setzt offenbar auf ein persönliches Gespräch mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, um den Knoten durchzuschlagen. Doch von der Leyen ziert sich. Auf die Frage, ob es bald Verhandlungen auf Chefebene geben würde, reagierte ein Kommissionssprecher ausweichend. Im Prinzip seien solche Gespräche bereits im vergangenen Herbst vereinbart worden, hieß es. Einen Termin – etwa am Rande des nächsten EU-Gipfels am 19. Juni – wollte er jedoch nicht nennen.

Riskantes Kalkül

Dahinter steht taktisches Kalkül. Die EU würde die Gespräche gerne verlängern, um so einen sanften Übergang zu sichern – ohne den „No Deal“-Hammer. Für Johnson wäre eine Verlängerung jedoch gleichbedeutend mit Verwässerung oder gar Verrat. Er hat den Briten den Brexit versprochen und will sie nicht auf 2021 oder später vertrösten. Hinzu kommt, dass sich Johnson unter einem „guten Deal“ etwas völlig anderes vorstellt als Barnier oder von der Leyen. Der britische Tory-Chef strebt ein Abkommen nach dem Vorbild des CETA-Deals mit Kanada an – ohne Zölle, Quoten oder andere Handelsschranken. Außerdem will er freie Hand bei den Fischereirechten und dem Umgang mit Irland.

Demgegenüber will die EU Großbritannien so nah wie möglich am Binnenmarkt und seinen Regeln halten. Das Stichwort heißt „level playing field“, also gleiche oder annähernd gleiche Standards bei Steuern, Abgaben und in der Sozial- und Umweltpolitik. Zudem fordert die EU fairen Zugang zu den britischen Fischgründen und die Umsetzung aller Vereinbarungen zu Irland und Nordirland. „Man lässt uns keine echte Wahl“, klagt der britische Chefunterhändler David Frost. Brüssel biete nur alles (Freihandel zu EU-Regeln) oder nichts (also WTO-Zölle). London strebe jedoch einen Kompromiss zwischen diesen beiden Extremen an. Damit dies möglich werde, müsse Brüssel aber endlich aufhören, Großbritannien so zu behandeln, als sei es immer noch ein EU-Mitglied.

Doch genau das fällt Barnier und von der Leyen sichtlich schwer. Sie wollen die Briten nicht ziehen lassen und hoffen auf enge, partnerschaftliche Beziehungen – nicht nur beim Handel, sondern auch in der Außenpolitik. Doch auch da spielt Johnson nicht mit: Er setzt auf die Partnerschaft mit den USA. Präsident Donald Trump lockt mit einem großzügigen – und vor allem schnellen – Handelsdeal bis zum Jahresende.