Dienstag21. Oktober 2025

Demaart De Maart

Interview Swetlana Tichanowskaja: „Die Menschen in Belarus wollen nicht mehr in einer Diktatur leben“

Interview  / Swetlana Tichanowskaja: „Die Menschen in Belarus wollen nicht mehr in einer Diktatur leben“
Die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja musste im August kurz nach den Präsidentschaftswahlen ins Ausland fliehen, da ihre Sicherheit in Belarus nicht mehr garantiert war Foto: Georg Hochmuth/APA/AFP

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

Die weißrussische Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja musste kurz nach den Präsidentschaftswahlen am 9. August das Land aus Sicherheitsgründen verlassen und floh nach Litauen. Seitdem bekämpft die Politikerin aus dem Exil das Regime von Alexander Lukaschenko und sucht Unterstützung in anderen europäischen Staaten für die Menschen und die Forderungen der Opposition in Belarus. Unsere Korrespondentin in Moskau hat Swetlana Tichanowskaja getroffen und mit ihr folgendes Gespräch geführt.

Tageblatt: Sie reisen seit geraumer Zeit durch Europa und treffen viele Politiker. Was steht bei Ihren Begegnungen im Zentrum?

Swetlana Tichanowskaja: Ich mache vor allem auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam. Europa hat diesbezüglich recht schnell reagiert. Sanktionen wurden erlassen. Die OSZE hat im Rahmen des „Moskauer Mechanismus“ am Donnerstag einen ausführlichen Bericht vorgestellt. Dort sind viele Fakten dokumentiert, auch wenn man den Autor (den österreichischen Juristen Wolfgang Benedek, Anm.) nicht nach Belarus reisen ließ. Besonders wichtig für die Belarussen ist nun finanzielle Hilfe. Viele Menschen werden verfolgt oder entlassen. Wir bemerken eine Solidaritätswelle: Staaten wollen helfen und stellen Geld, Stipendien oder Ähnliches zur Verfügung. Wir können nichts fordern. Wir bitten um Hilfe. Jedes Land muss für sich entscheiden, wie es den Belarussen helfen will.

Wie ist es für Sie, diese bekannten Persönlichkeiten zu treffen?

Wissen Sie, in Belarus wird sogar der kleinste Beamte gefürchtet. Er kann dich anschreien, dich verscheuchen, Probleme bereiten. Hier ist es anders. Ich treffe Menschen in hoher Funktion, aber es sind normale Menschen, sie sind offen für ein Gespräch. Natürlich bin ich aufgeregt, aber ich habe keine Angst. Das Wichtigste ist, die kurze Zeit eines Treffens maximal zu nutzen. Politiker sind viel beschäftigt. Man muss Informationen klar darlegen und darf nur nichts vergessen. Das Wichtigste ist: auszudrücken, was dein Volk fühlt.

Apropos EU-Sanktionen: Sind die Maßnahmen ausreichend?

Am Anfang meines Weges dachte ich: Europa schaltet sich ein und wir werden Lukaschenko sofort los! Natürlich würde ich härtere Maßnahmen, mutigere Reaktionen und eine schnellere Entscheidungsfindung begrüßen. Aber die Abstimmung der Staaten dauert nun mal – gerade jetzt in der Covid-Ära. Es passiert gerade so viel in der Welt. Positiv ist, dass Belarus noch immer Thema ist, dass Europa uns beobachtet. Solange man über uns spricht, heißt das, es gibt uns.

Protestiert wird seit drei Monaten. Welche Aussichten gibt es?

Alle Prognosen sind schwierig. Sicher ist: Es gibt kein Zurück. Es kann sein, dass die Demonstrationen im Winter abnehmen. Aber Demonstrationen sind nur ein Teil der Protestbewegung. Die Formen ändern sich. Manche machen „Partisanen“-Aktionen. Andere organisieren sich in unabhängigen Gruppen. Früher waren die Belarussen vereinzelt. Jetzt formulieren die Menschen erstmals ihre Ziele: Sie wollen nicht mehr unter einer Diktatur leben.

Angesichts der Repression – werden die Bürger nicht erschöpft?

Natürlich gibt es Erschöpfung. Stellen Sie sich vor: Sie gehen demonstrieren und wissen nicht, ob Sie wieder sicher nach Hause kommen. Ihre Freunde werden verhaftet, geschlagen. Sogar ich in Litauen spüre das. Ich bin dort zwar physisch sicher. Moralisch aber ist die Lage sehr ermüdend.

Und die Lösung der Krise?

Der Ausweg sind Neuwahlen. Es wäre im Interesse der Staatsmacht, sie früher als später durchzuführen. Belarus befindet sich in einer schweren politischen und ökonomischen Krise. Die Staatsmacht ignoriert das. Diese Konfrontation kann sich noch länger hinziehen.

Lukaschenkos Regime hängt jetzt stark von den Sicherheitskräften ab. Warum unterstützen sie ihn?

Das hat mehrere Gründe. Die Beamten erhalten sehr hohe Löhne und staatliche Unterstützung, etwa Wohnungen. Auch sind sie an strenge Verträge gebunden. Doch das System hat nur wenige Unterstützer. Ich bin davon überzeugt, dass die „Omonowzi“ (Spezialeinsatzkräfte, Anm.) diese Grausamkeiten nicht begehen wollen.

Nach der Wahl im August gab es einen Moment, in dem die Staatsorgane gelähmt waren. Bereuen Sie es, dass Sie damals nicht entschiedener vorgegangen sind?

Sie meinen Gewaltanwendung?

Nicht nur. Sie hätten die Macht für sich beanspruchen können.

Durch Gewaltanwendung hätten wir in den ersten Tagen den Lauf der Dinge sehr leicht für uns entscheiden können. Doch wir wollten friedlich und gesetzmäßig vorgehen. Womöglich wird jemand sagen, wir hätten unsere Chance verpasst. Aber gewaltsam wollen wir die Staatsmacht nicht bekämpfen. Was würde uns dann von diesen Kriminellen unterscheiden?

Lukaschenko hält sich auch dank Russland. Besteht zwischen Ihnen und Moskau Kontakt?

Wir haben von Anfang an Kontakt mit Moskau gesucht und das auch nicht verschwiegen. Bis heute hat man dort nicht reagiert. Wir sehen, dass Moskau von einer anfänglich direkten und starken Unterstützung Lukaschenkos allmählich abrückt. Moskau versteht, dass die Belarussen ihr Land selbst regieren und dies nicht länger einem einzigen Mann überlassen wollen. Lukaschenkos aktuelle Repressionswelle spricht von Panik. Er macht viele Fehler. Wir können also nicht nur dank eigener Kräfte auf den Sieg hoffen, sondern auch dank seiner Fehler.

Lukaschenko auf EU-Sanktionsliste gesetzt

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko, sein Sohn Viktor sowie 13 andere Vertreter des osteuropäischen Landes sind auf die EU-Sanktionsliste gesetzt worden. Die EU-Mitgliedsstaaten gaben gestern ihre Zustimmung für die offizielle Mitteilung dieser Maßnahme. Damit werden die Guthaben der Betroffenen, unter denen sich auch Lukaschenkos Stabschef, der Geheimdienstchef von Belarus und der Pressesprecher des Präsidenten befinden, eingefroren. Außerdem erhalten sie keine Visa für die EU. Lukaschenko hält nach Informationen der Insider-Homepage „EU-Observer“ Anteile an Immobiliengesellschaften in Zypern. Die EU wirft Lukaschenko vor, vor den Neuwahlen am 9. August die wichigsten Kandidaten der Opposition ausgeschlossen zu haben und für die willkürliche Festnahme „friedlicher Demonstranten“ und die „Einschüchterung und Gewalt gegen Journalisten“ verantwortlich zu sein. Die EU-Botschafter hatten die Sanktionen am Mittwoch auf den Weg gebracht. Das Vorgehen musste jedoch noch im schriftlichen Verfahren von den 27 Mitgliedstaaten bestätigt werden. Die EU erkennt die Wiederwahl Lukaschenkos nicht an.