Ein lauer Herbstwind streicht über die Terasse des Eiscafés „Crna ovca – Schwarzes Schaf“ in der Belgrader Ulica Njegoseva. Genussvoll lutscht und löffelt eine Handvoll unentwegter Gäste am Abend noch immer ihr Eis: Nur die Gesichtsmasken der Kellner erinnern an die auch in Serbien allgegenwärtige Epidemie. Mit dicken Westen und umgehängten Decken schlürfen die Müßiggänger im Hof der Kneipe „Monks“ im Freien ihr Bier. Gefragt, warum er keine gasbetriebenen Terassenheizer installiere, zuckt der hoch gewachsene Wirt mit den Schultern. Mittel für irgendwelche Investitionen habe er längst nicht mehr: „Und sie werden uns ohnehin bald wieder schließen.“
Nächtliche Ausgangssperren, geschlossene Einkaufszentren, verriegelte Wirtshäuser und stillgelegte Betriebe: Die wieder aufgeflackerte Viruskrise lässt immer mehr ratlose Regierungen ihr Heil im Lockdown suchen. Europa macht dicht. Doch trotz steigender Infektionszahlen versuchen die ex-jugoslawischen Nachbarstaaten Serbien und Kroatien, den Lockdown und die erneute Lahmlegung der Wirtschaft vorläufig weiter zu vermeiden.
Erstmals ist Serbiens offizielle Infiziertenzahl in dieser Woche auf über 2.400 geklettert. Doch bis 23.00 Uhr sind Kneipen und Restaurants noch immer geöffnet. Er habe den Krisenstab gebeten, die Gaststätten – so lange dies möglich sei – „nicht schließen“ zu lassen, sagt der allgewaltige Präsident Aleksandar Vucic: Denn die gebeutelte Gastronomie benötige „jeden Dinar“. Im Frühjahr hatte er seinen Landsleuten mit Verweis auf die begrenzten Friedhofskapazitäten noch sieben Wochen lang eine sehr rigorose Ausgangssperre verpasst. „Es gibt viel zu arbeiten und aufzubauen“, verkündet der Staatschef nun: „Darum ist es nötig, dass man unsere Wirtschaft nicht schließt.“
Sehr hohe Sicherheitsstandards
Auch die bunten Schals in seinem Laden könnten die trübe Stimmung des Fußballshirt-Verkäufers in der Passage am Nikola-Pasic-Platz nicht aufhellen. Seit der Beginn der Corona-Krise habe er 4.000 Euro an Einkünften verloren, seufzt der grauhaarige Händler – viel Geld in einem Land, wo das statistische Durchschnittseinkommen netto gerade einmal 500 Euro beträgt: „Die Leute kaufen nicht, weil sie einfach kein Geld mehr haben.“
Zumindest die Pharma-Industrie hat unter Corona kaum zu leiden. Mit einem Infrarotthermometer überprüft der Portier in der Belgrader Hauptverwaltung des zur deutschen Stada-Gruppe zählenden Arzneimittelherstellers Hemofarm die passierenden Mitarbeiter. Mit geballter Faust begrüßt Vorstandschef Ronald Seeliger seine Besucher. Wegen der „ohnehin sehr hohen Sicherheitsstandards“ habe Hemaform im Produktionsalltag „relativ wenig Probleme mit Corona“: „Das Tragen von Masken war schon vorher Pflicht.“
Auch wirtschaftlich hat die Krise Hemaform kaum getroffen. „Wir merken zwar, dass Patienten Arzt- oder Krankenhausbesuche aus Vorsicht herausschieben. Aber auf der anderen Seite sind Immunpräparate gerade in solchen Krisen notwendig – und gefragt.“ Trotz der Pandemie habe die Stada-Gruppe im ersten Halbjahr weltweit 16 Prozent mehr Umsatz gemacht: Auch in Serbien rechne Hemofarm in diesem Jahr mit „positiven Ergebnissen“.
Neben dem relativ hohen Anteil der krisenbeständigen Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie am Sozialprodukt machen Ökonomen auch Serbiens starken Pharmasektor mit dafür verantwortlich, dass der Balkanstaat bisher vergleichsweise gut durch die Krise schlittert. Unterschiedliche Prognosen sagen Serbien in diesem Jahr ein Minuswachstum von 1,5 bis 3,5 Prozent voraus: Sollten sich diese bewahrheiten, würde der EU-Anwärter im Corona-Jahr zu den Staaten mit den geringsten Einbrüchen in Europa zählen.
Hilfsgelder als letzte Rettung
Mit Wachstumseinbrüchen von über acht Prozent muss 2020 hingegen der stark vom Tourismus abhängige EU-Nachbar Kroatien rechnen. Obwohl die Zahl der Infizierten auf über 2.800 pro Tag geklettert ist und die Ärzteverbände vor dem Kollaps des Gesundheitssystems warnen, sieht Premier Andrej Plenkovic im Lockdown „keine Option, weil das nicht nützlich ist“. Drastische Maßnahmen hätten sich in anderen EU-Staaten „nicht als effektiv“ erwiesen, beteuert Krunoslav Capak, der Chef der nationalen Gesundheitsbehörde: „In Ländern mit Lockdown steigen die Zahlen auch.“
Staatliche Hilfsgelder haben sich für viele Firmen im Corona-Jahr zwar als letzte Rettung erwiesen, aber Kroatiens Haushaltsdefizit und Staatsschuld auch kräftig klettern lassen. Kroatien könnte einen erneuten Lockdown überleben, „aber die Frage ist, zu welchem Preis“, warnt der Ökonomie-Professor Hrvoje Simovic.
Neben Kroatiens Tourismus- und Gastronomie-Sektor hat die Krise den Handel, den Transportsektor, aber auch die Textilindustrie hart getroffen. „Textilindustrie am Scheideweg“, titelt aufgeregt die Zeitung Jutarnji List, die besorgt vor dem Verlust von 17.000 Arbeitsplätzen und dem „endgültigen Zusammenbruch“ der Textilbranche warnt.
Leise schnurren in der hohen Fertigungshalle in Varazdin die Nähmaschinen. Außer den hochwertigen Tweedstoffen für die Anzüge und Mäntel der Winterkollektion lief bei Kroatiens Textilriesen Varteks in den letzten Monaten auch leichte Baumwolle unter die tickenden Nadeln. Die Produktion von Gesichtsmasken sei trotz der geringen Profite wegen der Absicherung des Cashflows eine „gute Maßnahme“ gewesen, sagt Vorstandschef Tomislav Babic.
Umbrüche, aber kein Untergang
Einbußen habe das auf die Produktion hochwertiger Herrenanzüge spezialisierte Varteks vor allem bei Auftragsarbeiten für andere Firmen wie Hugo Boss oder J.Linderberg erlitten. Die dadurch nicht ausgelasteten Kapazitäten habe die Firma zur verstärkten Produktion der eigenen Marken genutzt: „Varteks hat durch agile Produktionsumstellungen die Covid-Krise im Frühjahr besser überstanden als erwartet und im Sommer den Marktanteil gar verbessert.“
Die steigenden Infektionszahlen haben Varteks im Herbst zwar neue Umsatzverluste beschert und die geplante Expansion in die Nachbarländer abgebremst. Dennoch blickt Babic verhalten positiv in die Zukunft. Mit einem neuen Lockdown rechne er nicht. Der Rückgang der Verbraucherausgaben sei zwar beunruhigend. Doch als „ermutigend“ bezeichnet er den Anstieg der Ersparnisse: „Sobald die Pandemie endet, wird der Konsum drastisch anziehen.“
Es werde sicher zu „Umbrüchen“ in Kroatiens Textilindustrie kommen, doch untergehen werde sie keineswegs, ist Babic überzeugt. Die Corona-Krise habe letztlich die Strategie seines Unternehmens bestätigt, den Schwerpunkt von der Auftragsarbeit für andere Unternehmen zu vermehrten Investitionen in die eigenen Marken und Ladenkette zu verlagern: „Das Wichtigste ist, sich flexibel an neue Situationen anzupassen – und hart und qualitativ gut zu arbeiten.“
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können