Die Polizei konnte Sonntagabend gerade noch Bilder wie Ende August vor dem Berliner Reichstag oder vor vier Wochen in Washington verhindern: Der Versuch von Demonstranten, das Wiener Parlament zu besetzen, wurde im Keim erstickt. Tagsüber hatten 10.000 Menschen das verhängte Demonstrationsverbot ignoriert und im Zentrum Wiens mit „Spaziergängen“ gegen die Corona-Schutzmaßnahmen protestiert. 2.000 Anzeigen wegen Verstößen gegen Corona-Regeln hagelte es, 32 Personen wurden festgenommen.
Nicht nur drei FPÖ-Abgeordnete, auch der Chef der rechtsextremen Identitären, Martin Sellner, und der vielfach einschlägig vorbestrafte Neonazi Gottfried Küssel hatten sich unter die Massen gemischt. Am Montag wurde ein hochrangiger Bundesheer-Offizier suspendiert, der in einem Internet-Video die Corona-Maßnahmen als Verfassungsbruch kritisiert und dabei ein T-Shirt mit einem Neonazi-Spruch getragen hatte.
Auch wenn offensichtlich ist, dass rechtsextreme Gruppen den Unmut über den seit fünf Wochen währenden dritten Lockdown instrumentalisieren, machte sich in der türkis-grünen Regierung Ernüchterung über die Wirksamkeit ihrer Durchhalteparolen breit. Denn auch in den eigenen Reihen baute sich massiver Druck auf. Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) sprach für seine anderen acht Amtskollegen, als er Öffnungsschritte forderte, weil, „ansonsten steuern wir geradewegs auf einen bundesweiten Lagerkoller zu“.
Mutanten fressen Erfolg
Die Zahlen sprechen eher für Verschärfung als Lockerung. 1.100 Neuinfektionen am Montag sind 400 mehr, als sich die Regierung selbst als Ziel gesetzt hatte. Auch der ehrgeizige Impfplan ist mangels ausreichender Vakzine Makulatur. Die Virus-Mutanten bedeuten einen weiteren Unsicherheitsfaktor. „Die Mutationen fressen den Erfolg des Lockdowns auf“, räumte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) gestern ein. Aber obwohl es „aus epidemiologischer Sicht besser wäre, im Lockdown zu verharren“, verkündete er am Abend nach stundenlangem Tauziehen mit Opposition und Länderchefs Lockerungsmaßnahmen: In den Schulen startet kommenden Montag wieder der Präsenzunterricht, wobei die Schüler regelmäßig getestet werden sollen. Auch der Handel darf dann öffnen, wobei eine FFP2-Maskenpflicht und eine Begrenzung auf einen Kunden pro 20 Quadratmeter Geschäftsfläche gilt. Sogar „körpernahe Dienstleister“ wie Friseure dürfen ab 8. Februar öffnen – für alle, die einen negativen „Eintrittstest“ vorweisen. Im Gegenzug werden die Strafen für Regelverstöße verschärft. Strengere Einreisebestimmungen, die heute bekannt gegeben werden, sollen zudem, so Kurz, „verhindern, dass wir uns Mutationen aus anderen Teilen der Welt einschleppen“.
Illusionen hat der Kanzler keine mehr: Ein neuerliches exponentielles Wachstum der Infektionszahlen hält er für ein „realistisches Szenario“. Deshalb wird schon eine Woche nach der Öffnung evaluiert. Steigen die Zahlen wie befürchtet, droht ein Zurück in den harten Lockdown.
De Maart
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können