Mittwoch5. November 2025

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Green Border„Nazi-Propaganda“: Polens Regierung ist erbost wegen Film über Geflüchtete

Green Border / „Nazi-Propaganda“: Polens Regierung ist erbost wegen Film über Geflüchtete
Das Drama wurde beim Filmfestival von Venedig Anfang September mit dem Jury-Spezialpreis ausgezeichnet Foto: Agata Kubis

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Dies sind die letzten warmen Spätsommerabende in Polens Ostseebad Sopot, dem polnischen Monte-Carlo. Hier treffen sich die VIPs und Stars der Musik- und Filmszene – und dazu viele Wochenend-Besucher. Umso erstaunlicher ist der volle Kinosaal am „Kurplatz“ gleich gegenüber vom altehrwürdigen Sanatorium. Gezeigt wird als Premiere Agnieszka Hollands international hochgelobter Film „Zielona Granica – Green Border“.

Im Dritten Reich produzierten die Deutschen Propagandafilme, die die Polen als Banditen und Mörder zeigten. Heute gibt es dafür Agnieszka Holland.

Zbigniew Ziobro, Justizminister der Rechtsaußen-Koalitionspartei „Souveränes Polen“, zehn Tage vor der Premiere

Im liberal regierten Sopot gibt es diesen Abend keine Demo rechtsradikaler Aktivisten gegen den angeblich antipolnischen Film. Im Gegensatz zur Premiere vor ein paar Tagen in Krakau werden die Kinobesucher nicht beschimpft. So lässt sich in Ruhe ein in Schwarz-Weiß gedrehtes Drama einer syrischen Familie von Geflüchteten anschauen, die versucht, via Belarus und Polen nach Schweden zu gelangen, wo ein Mitglied der kriegsversehrten Großfamilie bereits lebt. Amina und Baschir werden dabei mit ihren drei Kindern dreimal in umstrittenen Pushbacks von Polen wieder nach Belarus getrieben, sie werden erniedrigt, geschlagen und verlieren dabei zwei Familienmitglieder. Der Opa wird von den belarussischen Grenzsoldaten zu Tode geprügelt, der Sohn Nur ertrinkt in den polnischen Sümpfen.

Dieses beim Filmfestival von Venedig Anfang September mit dem Jury-Spezialpreis ausgezeichnete Drama hat Polens nationalpopulistische Regierung so sehr erbost, dass sie es mit „Nazi-Propaganda“ verglichen hat. Das in dem Film in der Tat durchwegs nur dunkel gezeichnete Regime des mit Putin befreundeten Diktators Aleksander Lukaschenko äußerte sich bisher nicht zum Spielfilm, der laut Agnieszka Holland auf belegbaren Fakten beruht.

Doch der Reihe nach: „Green Border“ („Grüne Grenze“) beginnt mit einer farbigen Luftaufnahme des letzten Urwalds von Europa bei Bialowieza, einem abgelegenen, sumpfigen Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus. Der Film spielt vor allem im Jahr 2021, als im Herbst immer mehr arabische und afrikanische Asylsuchende von den belarussischen Grenzschützern über den behelfsmäßig errichteten Stacheldrahtzaun nach Polen getrieben werden. Lukaschenko und sein russischer Unterstützer Wladimir Putin versuchen, mit der Schaffung einer völlig neuen Flüchtlingsroute via Minsker Flughafen die EU zu destabilisieren und im Idealfall eine Lockerung der Wirtschaftssanktionen zu erzwingen. Begonnen hatte die Flüchtlingskrise im Sommer in Litauen, im Herbst hatte sie Polen erreicht.

Alles andere als einseitig

In „Green Border“ freundet sich die afghanische Englisch-Lehrerin Leila im Flugzeug von Istanbul nach Minsk mit Amina und Baschirs zu Beginn der Flucht noch sechsköpfigen Familie an. Sie rechnen mit einer leichten Reise in zwei Minibussen mit einem kurzen Fußmarsch dazwischen von Minsk nach Malmö. Leila schließt sich ihnen an – und bezahlt aus Dankbarkeit für die Mitfahrgelegenheit auch die ersten ultimativ von belorussischen Grenzern geforderten 300 Dollar für den illegalen Grenzübertritt nach Polen. Eine Gruppe von Geflüchteten wird dabei unter Hundegebell und Gewehrschüssen durch ein Loch im Stacheldraht auf polnisches Gebiet getrieben. Leila, Amina, Baschir, der Opa und die drei kleinen Kinder irren danach tagelang im Bialowieza-Urwald herum. Bald haben sie keinen Strom für die Handys, kein Essen und kein Wasser mehr. Am Ende werden sie verraten von einem polnischen Bauern und vom Grenzschutz aufgegriffen. Manche Grenzer sind dabei eher brutal, andere spielen nett mit den Kindern. Das gezeichnete Bild ist alles andere als einseitig.

Doch die PiS-Regierung in Warschau sah rot, lange bevor überhaupt jemand den Film gesehen hatte. Zbigniew Ziobro, der umstrittene Justizminister der Rechtsaußen-Koalitionspartei „Souveränes Polen“ twitterte bereits zehn Tage vor der Premiere: „Im Dritten Reich produzierten die Deutschen Propagandafilme, die die Polen als Banditen und Mörder zeigten. Heute gibt es dafür Agnieszka Holland.“ Die weltweit hoch angesehene 74-jährige Regisseurin jüdisch-polnischer Abstammung forderte eine öffentliche Entschuldigung und eine Spende in Höhe von umgerechnet 11.000 Euro an den Verein „Kinder des Holocaust“.

Vize-Innenminister Blazej Pobozy, der selbst im dargestellten Grenzgebiet wohnt, kündigte eine Gegendarstellung des polnischen Grenzschutzes an, die alle Studiokinos in Polen vor „Green Border“ zeigen müssten. In Sopot indes gab es diesen Regierungsfilm am Samstagabend nicht zu sehen. „Wir planen keine Emission dieses Regierungsspots“, sagt Kinoketten-Sprecherin Natalia Kaleta-Nguyen. Der polnische Grenzschutz wies auf einer PK kurz vor der Premiere darauf hin, dass die Beamten an der Grenze zu Belarus seit 2021 über 900-mal Notärzte zu den Schutzsuchenden gerufen und insgesamt umgerechnet 350.000 Euro für medizinische Hilfe bezahlt hätten. In 23 Rettungsaktionen sei das Leben von 80 Geflüchteten gerettet worden, hebt Sprecherin Anna Michalska hervor. Der Grenzschutz fühle sich durch den Film ungerecht behandelt.

Die PiS-Regierung in Warschau hat inzwischen an der Grenze zu Belarus einen massiven, 5,5 Meter hohen Metallzaun errichten lassen, der auch elektronisch überwacht wird. Dennoch kommen auch heute noch täglich oftmals mehrere Dutzend Flüchtlinge über diesen Zaun; die meisten werden laut Grenzschutz-Angaben mit Pushback-Aktionen zurückgeschickt. Am Samstag waren es laut Grenzschutz 40 Personen, darunter viele aus Eritrea.

In Hollands Drama werden die dramatischen Erlebnisse der Asylsuchenden mit der Geschichte des jungen Grenzschutz-Soldaten Janek und einer Gruppe polnischer Flüchtlingsaktivistinnen verknüpft. Die Grenzlandbewohnerin Julia schließt sich jungen Flüchtlingsaktivisten aus Warschau an und gerät mit den Bestimmungen des damals für die Grenzregion ausgerufenen Notrechts in Konflikt. Der Grenzschutz-Soldat Janek, der eine hochschwangere Ehefrau hat, kriegt Gewissensbisse und verrät am Ende des Films Amina, Baschir und die zwei überlebenden Kinder nicht, obwohl er die vier bei einer Routinekontrolle in einem Lieferwagen mit tschechischem Nummernschild entdeckt.

„Nur Schweine sitzen im Kino“

Diesem Happy End hat Holland einen Epilog angehängt, der ebenso in Schwarz-Weiß sehr nette polnische Grenzschützer zeigt, die in den ersten Tagen der russischen Invasion in die Ukraine bis zu eine Million Ukrainer mitsamt ihren Haustieren nach Polen einreisen lassen, Kleinkinder tragen, Alten helfen, lächeln.

Trotz dieses versöhnlichen Endes der immer offen PiS-kritischen Agnieszka Holland hat selbst Polens Staatspräsident Andrzej Duda, der von Amts wegen parteilos ist, aber seine politische Heimat in der PiS hat, vor ein paar Tagen im Staatsfernsehen TVP den Film mit Nazi-Propaganda verglichen. „Nur Schweine sitzen im Kino“, sagte Duda in Anlehnung an einen Spruch aus der deutschen Besatzungszeit von 1939 bis 1945. Agnieszka Hollands neuster Film muss drei Wochen vor wichtigen Parlamentswahlen tatsächlich sehr gefährlich für PiS sein. Oder aber er bietet der Regierung ein ideales Feld, um vom großen Visaskandal inklusive illegalen Verkaufs von Tausenden Arbeitsvisen in muslimischen Staaten im Außenministerium abzulenken.