NordirlandNach den Brexit-Krawallen von Belfast gibt es wieder Sorge um den Friedensprozess

Nordirland / Nach den Brexit-Krawallen von Belfast gibt es wieder Sorge um den Friedensprozess
Polizisten stehen auf der Springfield Road in Belfast: In der britischen Provinz Nordirland kommt es seit Tagen zu nächtlichen Krawallen Foto: dpa/PA Wire/Liam Mcburney

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Nach den schwersten Krawallen der vergangenen Jahre in Nordirland haben örtliche Politiker sowie die Regierungen in London und Dublin am Donnerstag versucht, die Initiative zurückzugewinnen.

Nach einer Sondersitzung des Belfaster Regionalparlaments verurteilte die überkonfessionelle Allparteienregierung die Gewalt der vergangenen Tage. Man sei politisch „sehr unterschiedlicher Meinung“, hieß es in einer Erklärung führender Politiker der protestantisch-unionistischen und katholisch-nationalistischen Seite. „Doch wir unterstützen gemeinsam Recht und Ordnung.“

Wie bereits übers Osterwochenende randalierten erneut überwiegend junge Leute in der Nacht zum Donnerstag. Hatten sich die Krawalle bisher auf protestantische Stadtviertel beschränkt, entzündete sich der Konflikt diesmal an einem neuralgischen Punkt in Nord-Belfast. Am Lanark Way, zwischen der katholischen Springfield Road und der protestantischen Shankill Road, schlugen Vermummte einen Busfahrer in die Flucht und zündeten sein Fahrzeug an. Stundenlang wurden Pflastersteine, Feuerwerkskörper und Flaschen über die zynischerweise „Friedensmauer“ genannten meterhohen Zäune zwischen den Stadtvierteln geworfen. Nach Polizeiangaben waren 600 Menschen beteiligt; Erwachsene spendeten Jugendlichen und jungen Männern Beifall für die Randale. Acht Beamte erlitten Verletzungen; ein Journalist des „Belfast Telegraph“ wurde bestohlen und niedergeschlagen, zwei junge Männer wurden festgenommen.

Nach tagelangem Schweigen zeigte sich Premier Boris Johnson „zutiefst besorgt“ über die Ereignisse, sein irischer Kollege Michéal Martin warb für eine Entschärfung der Spannungen. Londons Nordirland-Minister Brendan Lewis wollte sich am Donnerstagnachmittag mit den örtlichen Politikern zusammensetzen und nach Lösungen suchen.

Keine Sache der Tories in London

Die in London seit 2010 regierenden Konservativen haben den noch immer fragilen Friedensprozess, der 1998 den 30 Jahre alten Bürgerkrieg mit mehr als 3.500 Toten beendete, nie zu ihrer Sache gemacht. Nach einer Reihe inkompetenter Minister gelang es Lewis’ Vorgänger Julian Smith zu Beginn vergangenen Jahres mit Zuckerbrot und Peitsche, die tief zerstrittenen Parteien wieder zur Allparteien-Regierung zusammenzuführen, nachdem diese drei Jahre lang brachgelegen hatte. Wenige Wochen nach diesem Triumph wurde er von Johnson gefeuert.

Dass der Premierminister über Nordirland möglichst wenig hören will, hat mit einem peinlichen Brexit-Aspekt zu tun. Unter Druck aus Brüssel und Dublin stimmte Johnson im Austrittsvertrag dem sogenannten Nordirland-Protokoll zu. Diese Vereinbarung hält die Landgrenze auf der Grünen Insel offen und garantiert dadurch den weitgehend ungestörten Verbleib von ganz Irland im europäischen Binnenmarkt. Dadurch entstand aber die Notwendigkeit begrenzter Zoll- und Warenkontrollen zwischen der einstigen Unruheprovinz und der britischen Hauptinsel, die ja Binnenmarkt und Zollunion verlassen hat.

Johnson leugnete zunächst diese Tatsache, spielte dann ihre Bedeutung herunter. Tatsache ist: Immer wieder bleiben die Regale führender Supermärkte leer, in den Häfen kommt es wegen der zeitraubenden Kontrollen zu Versorgungsproblemen. Dafür sei der Bürokratismus der EU-Kommission verantwortlich, behaupten die Brexiteers. London hat nun einseitig die Übergangsfristen für Zoll- und Veterinärkontrollen verlängert, wogegen Brüssel gerichtlich vorgeht.

Streit ist Folge des Brexit

Wenn schon die Regierung das Recht beuge, brauche sie sich nicht darüber zu wundern, dass die Bevölkerung ähnlich verfährt, glaubt Baronin Nuala O’Loan, die jahrelang der nordirischen Polizei-Ombudsstelle vorstand. Stattdessen solle London mit gutem Beispiel vorangehen, teilte das Mitglied des Oberhauses der BBC mit: „Wir müssen gemeinsam mit der EU das Nordirland-Protokoll der Realität anpassen.“

Die politische Brisanz dieses Brexitfolgen-Streits ergibt sich aus dem Abstimmungsverhalten der Nordiren 2016: 56 Prozent wollten damals in der EU bleiben, inzwischen ist die Mehrheit laut Umfragen gewachsen. Als einzige größere Partei plädierte die protestantische Unionistenpartei DUP von Ministerpräsidentin Arlene Foster nicht nur für den Austritt, sondern auch für den denkbar härtesten Brexit. Dessen negative Folgen sorgen nun bei ihrer Anhängerschaft sowie bei den gewaltbereiten sogenannten Loyalisten („loyal zur britischen Krone“) für Zorn und Verbitterung.

Zu dieser schwelenden Problemlage gesellte sich in der Karwoche eine umstrittene Entscheidung der Staatsanwaltschaft: Diese stellte ohne Anklagen das Ermittlungsverfahren gegen führende Vertreter von Sinn Féin, der größten irisch-katholischen Nationalistenpartei ein. Deren langjähriger Chef Gerry Adams, dessen Nachfolgerin Mary-Lou McDonald sowie die Ko-Leiterin der Allparteienregierung Michelle O’Neill hatten im Juni mit rund 2.000 Anderen am Begräbnis des notorischen IRA-Terroristen Robert „Bobby“ Storey teilgenommen – und das zu einer Zeit, als die Covid-Vorschriften Beerdigungen auf 30 Trauernde beschränkten.