Russische Kommentatoren bezeichnen den gewaltsamen Aufstand in Kasachstan als „Smuta“. So wird eigentlich die Zeit der Wirren im Russland des 16. Jahrhunderts genannt. Die Verantwortlichen für die „Smuta“ im Nachbarland sind in Russlands staatlichen Medien schnell gefunden: Es sind die USA, die fast schon reflexartig für jede Art von Protest im postsowjetischen Raum genannt werden. Diese finanzierten schließlich die meisten ausländischen Nichtregierungsorganisationen im Land.
Der Unmut ist allerdings hausgemacht. Was mit den Rufen „Gas jelu!“ („Gas für 50 Tenge!“) wegen plötzlich verdoppelter Flüssiggaspreise vor allem im Westen Kasachstans begonnen hatte, hat sich längst zu einem politischen Flächenbrand im ganzen Land ausgeweitet. „Schal, ket!“ („Alter Mann, geh!“), rufen die Menschen, fast ausschließlich Männer. Organisiert ist der Protest nicht, die Forderungen der Demonstranten sind unklar. Deutlich wird allerdings, dass es vor allem die sozioökonomischen Gründe waren, die die Menschen auf die Straßen trieben. Kasachstan ist reich an Öl und Gas, doch dieser Reichtum kommt bei vielen Menschen nicht an. Die Preise, nicht nur für Flüssiggas, das die Menschen in Zentralasien oft fürs Autofahren gebrauchen, waren zuletzt stark angestiegen. Nicht alle arbeiten in der Öl- und Gasbranche, viele Jüngere sehen kaum Perspektiven im Land. Ventile, die Unzufriedenheit loszuwerden, fehlen aber im autoritär geführten Land, das 2011 und 2019 Proteste niederschlug, auf die Gründe dafür aber kaum eingegangen war.
Der Langzeitherrscher Nursultan Nasarbajew hat stets im Hintergrund die Fäden in der Hand behalten. Auch nachdem er mit Kassym-Schomart Tokajew einen Nachfolger installiert hatte. Russlands Präsident Wladimir Putin hat Nasarbajew, dem „Führer der Nation“ (Elbassy), stets Anerkennung zukommen lassen. Tokajew hat er zuletzt kaum noch erwähnt. Nun stürzen die Nasarbajew-Statuen im Land, Tokajew macht sich selbst zum Chef des Sicherheitsrates. Eine heftige Degradierung Nasarbajews. „Die Schizophrenie der Doppelmacht in Kasachstan hat ein Ende“, sagt der russische Politologe Arkadi Dubnow vom Moskauer Carnegie-Zentrum.
Für Russland, das derzeit in staatlichen Ferien weilt, kommt die Krise bei seinem engen Verbündeten Kasachstan zu einem ungünstigen Zeitpunkt. An der Grenze zur Ukraine hat Moskau Truppen zusammengezogen und bedroht das Nachbarland, während es vehement Sicherheitsgarantien vom Westen einfordert. Kreml-loyale Beobachter sehen in den Protesten in Kasachstan eine Verschwörung: Der Westen wolle damit Russland zu Zugeständnissen zwingen, raunen sie.
Präsident spricht von terroristischem Angriff
Kasachstan ist mit Russland in der Eurasischen Wirtschaftsunion vereint. Die beiden Länder sind ebenfalls Partner im von Russland ins Leben gerufenen Militärbündnis, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (ODKB). Tokajew hat die ODKB, die eigentlich bei Bedrohung von außen eingreifen sollte, angerufen und erklärte den Bündnisfall dadurch, dass die Unruhen in seinem Land einem terroristischen Angriff von außen gleichkämen. Seinen Worten nach handle es sich um im Ausland ausgebildete Banden. Russland schickt Soldaten als Friedenstruppen nach Kasachstan – und könnte mehr Einfluss im Land bekommen.
Bereits 2014 hatte Putin bei einem seiner Auftritte davon gesprochen, Kasachstan sei ein Teil der „großen russischen Welt“ und habe nie eine eigene Staatlichkeit gehabt, Nasarbajew habe diese geschaffen. Es war auch stets Nasarbajew, der trotz Partnerschaft eine gewisse Distanz zu Moskau zu pflegen versuchte und es auch schaffte, weil sein Land – im Gegensatz zur Ukraine zum Beispiel – wirtschaftlich stark war. Auch der Ukraine spricht der Kreml die Staatlichkeit ab. Zudem leben vor allem im Norden Kasachstans viele ethnische Russen. Diese könnte Moskau durch die Unruhen bedroht sehen und retten wollen. Ohnehin betrachtet Russland den kasachischen Norden historisch als russisches Territorium.
Die heftigen Auseinandersetzungen in Kasachstans Städten führen dem Kreml vor allem auch vor Augen, dass der Machtübergang von Nasarbajew zu Tokajew nicht als der Erfolg gesehen werden kann, den der Kreml stets als solchen wahrnahm. Putin hat seine Nachfolge noch nicht geregelt. Das, was in Kasachstan passiere, so sagt Politologe Dubnow, sei eine „Apokalypse für Autokraten“.
Lage in Kasachstan äußerst angespannt
Nach den beispiellosen Zusammenstößen bei Protesten in Kasachstan ist die Lage in dem autoritär regierten Land äußerst angespannt: In den Straßen der Wirtschaftsmetropole Almaty fielen am Donnerstag erneut Schüsse, wie Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichteten. Laut offiziellen Angaben wurden insgesamt 18 Sicherheitskräfte getötet und mehr als 700 verletzt. Zudem gebe es „dutzende“ Todesopfer unter den Demonstranten. Der Westen zeigte sich besorgt, Russland entsandte zusammen mit anderen Staaten „Friedenstruppen“. Kasachstan wird seit Tagen von heftigen Unruhen erschüttert. Proteste, die sich zunächst gegen steigende Gaspreise gerichtet hatten, weiteten sich zu regierungskritischen Massenprotesten im ganzen Land aus. Am Donnerstagabend flammten die Auseinandersetzungen offenbar wieder auf; in Almaty waren erneut Schüsse zu hören.
Mehr als tausend Menschen wurden seit Beginn der Proteste verletzt. Fast 400 Verletzte würden in verschiedenen Regionen des Landes im Krankenhaus versorgt, 62 Menschen befänden sich auf der Intensivstation, sagte der stellvertretende Gesundheitsminister Aschar Guinijat dem TV-Sender Chabar-24. Rund 2.000 Menschen wurden nach Polizeiangaben allein in Almaty festgenommen. Die 58-jährige Demonstrantin Saule sagte einem AFP-Reporter, sie sei fassungslos über das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte. Diese hätten das Feuer auf die Demonstranten eröffnet.
Auf Bitten von Staatschef Kassym-Schomart Tokajew starteten Kasachstans Verbündete mit Russland an der Spitze am Donnerstag eine militärische Unterstützungsmission. Die „Friedenstruppen“ seien auf begrenzte Zeit nach Kasachstan geschickt worden, „um die Lage zu stabilisieren und zu normalisieren“, hieß es in einer Mitteilung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS).
Staatschef Tokajew warf „Terrorgruppen“ vor, hinter den Protesten zu stecken. Ausgebildet würden die Gruppen „im Ausland“, sagte er im Staatsfernsehen. Auch der derzeitige Vorsitzende der OVKS, Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan, erklärte, die Unruhen in Kasachstan seien durch „äußere Einmischung“ ausgelöst worden. (AFP)

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