ReportageLandminen machen Bosnien auch 25 Jahre nach Kriegsende noch zu schaffen

Reportage / Landminen machen Bosnien auch 25 Jahre nach Kriegsende noch zu schaffen
Corona ist auch in Bosnien-Herzegowina präsent, sogar die Bruce-Lee-Statue in Mostar trägt jetzt Maske: Das Staatengebilde leidet aber noch unter einer anderen Plage – Landminen, die vor einem Vierteljahrhundert vergraben wurden Foto: AFP

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Die USA wollen den Einsatz von Landminen wieder erlauben. Das Beispiel Bosnien zeigt, wie schwer und lange ein Land auch nach dem Krieg noch an dessen tückischem Erbe zu leiden hat.

Dichtes Gestrüpp ist über die tödlichen Hinterlassenschaften des Kriegs gewachsen. Zentimeter für Zentimeter tasten sich die fiependen Detektoren der Minensucher in den blauen Schutzanzügen über den steinigen Grund unter den Wurzeln des zu beseitigenden Dickichts.

Die Vegetation sei das größte Hindernis, falsche oder fehlende Lagepläne die größte Schwierigkeit bei der Räumung von Minen, berichtet Einsatzleiter Smail Zuban. Oft ließen sich die in den Plänen vermerkten Orientierungspunkte wie Bäume oder Heuschober nicht mehr finden. Die Informationen von Anwohnern und früheren Soldaten über die Lage der vermuteten Minen seien zwar eine wichtige Hilfe: „Aber oft finden sich selbst die Leute, die die Minen einst gelegt haben, nicht mehr zurecht. Die Vegetation wuchert – und verändert viel.“

Weit schweift der Blick von der mit gelben Plastikbändern gesicherten Anhöhe unweit der Ortschaft Hodovo über die kargen Weiten der Herzegowina. Wegen der strategischen Bedeutung des Hügels bei der Kontrolle der Überlandstraße von Mostar nach Trebinje hatten sich während des Bosnien-Kriegs (1992-1995) sowohl die kroatischen Streitkräfte der HVO als auch der Armee der bosnischen Serben (VRS) in dessen Flanken eingegraben.

Diese Minen, die noch immer töten

Unterhalb des Gipfels hätten sich die kroatischen Bunker, weiter oben am Berg die serbischen Linien befunden, erzählt der über freigelegtes Geröll stapfende Minenräumer der britischen Hilfsorganisation MAG – und weist auf die überwucherten Reste eines Unterstands. Der von der serbischen VRS angelegte Lageplan über das von ihr 1992 angelegte Minenfeld sei zwar relativ genau. Doch zwischen den eingezeichneten Tretminen hätten seine Mitarbeiter von der kroatischen HVO gelegte Springminen gefunden: „Diese Minen töten noch immer: Durch sie sind seit dem Krieg die meisten Minenräumer gestorben.“

Weltweit wird die Zahl der unter der Erdoberfläche vergrabenen Anti-Personen-Minen auf 50 Millionen geschätzt. Auch Bosnien und Herzegowina macht das heimtückische Erbe des Kriegs 25 Jahre nach dessen Ende noch stets zu schaffen. Zwar sind nach Angaben der staatlichen Behörde für die Landminenräumung (BHMAC) im letzten Vierteljahrhundert rund 70.000 Minen vernichtet worden und hat sich die Oberfläche der Minenfelder seit 1997 von 4.200 auf 1.000 Quadratkilometer reduziert. Doch eine halbe Million Bosnier, fast 15 Prozent der Bevölkerung, sind noch immer von Minen bedroht.

„Uns verbindet das Holz“, sagt einer der an der Tankstelle am Ortseingang von Doboj wartenden Frührentner – und klopft lachend auf seine Beinprothese. Nur kurz war der heute 46-jährige Zoran Panic im Krieg Soldat gewesen, bevor der Tritt auf die „Pastete“, eine konservenförmige Tretmine, den damals 18-jährigen Forstschüler 1992 sein rechtes Bein kostete: „Ich war verzweifelt, fragte mich, ob ich jemals wieder laufen, funktionieren und eine Familie haben könnte.“

Zu Opfern der Minen werden alle

Minen würden „keine Religionen oder Nationen kennen“, sagt der heutige Familienvater und Aktivist des Amputiertenverbands (UDAS) im bosnischen Teilstaat der Republika Sprska: „Sie machen keinen Unterschied, ob Soldaten oder Zivilisten, Kinder oder Erwachsene, ein Hasan oder Ivan auf sie treten. Zu Opfern der Minen werden alle. Das Problem ist, dass sie sehr lange ihre blutigen Spuren hinterlassen: Sie töten nicht nur im Krieg, sondern auch danach.“

164 Staaten haben die Ottawa-Konvention von 1997 zur Ächtung von Landminen unterschrieben – die Großmächte USA, Russland und China sind nicht darunter. Im Februar hob US-Präsident Donald Trump den von seinem Vorgänger Barack Obama 2014 verfügten Bann zur Nutzung von Minen wieder auf. „In außergewöhnlichen Umständen“ sollten die US-Streitkräfte „forschrittliche Landminen“ einsetzen können, die aus der Ferne deaktiviert werden könnten, so das Weiße Haus in einer Erklärung: Dem Militär müsse zur „Flexibilität“ verholfen werden, „die es zum Siegen braucht“.

Trumps Landminen-Politik sei ein „Todesurteil für Zivilisten“, ärgert sich die Hilfsorganisation Handicap International: 54 Prozent von deren weltweiten Opfern seien Kinder. Die Vorstellung von „intelligenten Minen“ sei absurd: „Die einzige sichere Landmine ist die, die man nicht produziert.“ Tatsächlich zeigt das Beispiel Bosnien und Herzegowina, wie lange das Land auch 25 Jahre nach dem Krieg noch an dessen tückischem Erbe zu leiden hat.

Trumps Politik als Todesurteil 

Seit 1996 haben 673 Bosnier durch Landminen ihr Leben verloren und wurden 1.769 zum Teil schwer verletzt: Auch 55 Minenräumer kamen ums Leben. Allein in der Region Doboj habe es seit dem Krieg 98 Unglücke mit Landminen gegeben und hätten 36 Zivilisten ihr Leben verloren, berichtet Panic. Oft werfe der Schock des Verlusts der Beine die Überlebenden „aus der Bahn“: „Häufig sind die Opfer die Ernährer ihrer Familien und befanden sich schon zuvor in einer wirtschaftlich schweren Lage: Auch deswegen gerieten sie beim Holz-, Pilz- oder Alteisensammeln in vermintes Gelände.“

Zivilisten, die zu Minenopfer geworden seien, erhielten eine noch geringere Invalidenpension als Kriegsversehrte, die mit umgerechnet 250 Euro im Monat über die Runden kommen müssten, so Panic. Wie Amputierte ihr Trauma überwinden würden, hänge nicht nur von Hilfsleistungen, sondern auch vom Einzelnen und der Unterstützung durch ihre Familien ab: „Das größte Problem ist die Isolation, dass man sich nach so einem Schlag in sich und seine Wohnung zurückzieht.“ In Doboj habe den Minenopfern die Gründung eines Sitz-Volleyball-Clubs geholfen: „Der Sport hat uns geholfen, uns aufzurichten, und Amputierte in ganz Bosnien und anderen Ländern kennenzulernen.“

Rote Warnschilder säumen die mit gelben Bändern markierten Schneisen im Minenfeld. Wie ein umgekippter Campingkocher wirkt die freigelegte, zwischen Steinen eingeklemmte Springmine „Prom-1“. Eigentlich seien die Minen bedeckt, doch vermutlich sei diese vom Regen freigelegt worden, so Zuban. In die „gefährlichste Mine des Bosnien-Kriegs“ könne hingegen kein Wasser eindringen: „Die bleiben noch tausend Jahre aktiv.“

Durch einen gespannten Draht oder direkten Tritt aktiviert, springe der obere Teil 60 bis 70 Zentimeter nach oben, um bei der Detonation in einem Umkreis von 50 Metern alles zu zerstören: „Die Frage ist dann nur, wie viele Menschen sich in der Umgebung der Mine befinden. Bei ihr gibt es keine Überlebenden.“ Wichtig seien für Minensucher Vorsicht, volle Konzentration und der „Respekt vor den Minen“: „Wenn man die Angst verliert, ist das nicht gut.“

Eine Mine zu legen, braucht nur zwei Minuten

Es benötige „keine zwei Minuten“, um eine Mine zu legen, sagt der sehnige Minenräumer. Doch es bedarf ganzer Generationen, um die todbringenden Relikte der Kriege zu beseitigen. Seit einem Vierteljahrhundert werden in Bosnien Landräumen geräumt. Doch das ursprüngliche Ziel, das Land bis 2019 minenfrei zu machen, wurde klar verfehlt. BHMAC spricht nun von 2025 als neuem Zieldatum, andere halten 2060 für realistischer.

Die Donatoren und Mittel für die Minenräumung wüerden immer weniger, sagt Minenopfer Panic mit einem Achselzucken: „Wir sind für die Spender nicht mehr so interessant. Viele sind weitergezogen – auf andere Schlachtfelder in der Welt.“ Auch Svjetlana Luledzija, die Sprecherin der staatlichen BHMAC in Sarajevo, nennt den „finanziellen Faktor“ als einen von mehreren Gründen, warum die Minen in Bosnien langsamer als ursprünglich erhofft geräumt werden: „Wir könnten mit unseren Möglichkeiten rund 30 bis 35 Quadratkilometer pro Jahr säubern, aber schaffen derzeit nur 10-15, weil wegen der fehlenden Mittel weniger Leute beschäftigt werden.“

Auch weil Bosnien aus dem Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit und Donatoren geraten ist, engagiert sich die weltweit für die Räumung von Minen streitende Hilfsorganisation MAG seit 2018 verstärkt in dem Balkanstaat. Neben den USA und Schweden sei Deutschland in Bosnien der größte Sponsor der Minenräumtrupps von MAG, berichtet Clement Meynier, Direktor des MAG-Landesbüro in Sarajevo: „Im Winter operieren wir in der wärmeren Herzegowina, im Sommer im Norden des Landes.“

Die Finanzierung der Minenräumung ist laut seiner Erfahrung in dem politisch zerrissenen und fragilen Vielvölkerstaat allerdings „nicht das Hauptproblem“. Ein „flexiblerer Einsatz“ von Minenräumern, Suchhunden und Maschinen wie von MAG praktiziert könnte die Minenräumung in Bosnien „erheblich beschleunigen“: „Aber es fehlt auch am politischen Willen, dem Einsatz und der Entschlossenheit, den Standard der Minenräumung zu modernisieren.“

Ein kühler Wind weht über das Minenfeld von Hodovo. Anhand von Geländekarten illustrierte Zuban die Vorteile eines flexiblen Suchsystems. Die Voruntersuchung habe ergeben, dass die Minen nicht in dem projektierten Gelände sondern unmittelbar daneben gelegt worden seien: „Kommerziellen Firmen ist das oft egal, sie rechnen per Quadratmeter der projektierten Fläche ab. Wir gehen erst raus, wenn wir überzeugt sind, dass der Job erledigt ist.“

Auf 70 bis 75 Prozent der unter Kontaminationsverdacht stehenden Flächen lassen sich laut seiner Erfahrung keine Minen finden: „Meist wurde nicht das ganze Gelände zwischen den Fronten vermint, sondern nur schmale Streifen nahe der eigenen Position.“ Wenn es klare Beweise für eine Kontaminierung gebe, beginne MAG sofort mit der Minensuche. Wenn sich umgekehrt aber keinerlei Bestätigung für den Verdacht gelegter Minen finden lasse, werde das Gelände für minenfrei erklärt: „Wir arbeiten so effektiver und schneller – und suchen nicht mehr da, wo es gar keine Minen gibt.“

Vor 23 Jahren sei er „eher zufällig“ Minensucher geworden, erzählt der aus dem ostbosnischen Visegrad stammende Ökonom beim Abschied: „Es gab für Vertriebene nach dem Krieg kaum Arbeit.“ Doch längst sei ihm sein riskanter Broterwerb „ins Blut gegangen“: „Es geht bei diesem Job nicht nur ums Geld. Wenn man eine Mine findet, von der man weiß, dass sie früher oder später noch Menschen töten könnte, ist das einfach eine große Genugtuung.“ Ängste, dass sich sein Beruf einmal erübrigen könnte, plagen ihn hingegen keineswegs: „Bis in Bosnien die letzten Minen geräumt sein werden, bin ich längst in Pension.“