So haben Hunderte von Warschauern in den letzten zwei Wochen spontan ihre Wohnungen für ukrainische Flüchtlinge, zumeist Frauen mit Kindern, geöffnet. In vielen Wohnblocks hängen spontane Hilferufe von Polen, die Kinderbetten und Spielzeug für ihre ukrainischen Schützlinge suchen. Laut offiziellen Angaben des polnischen Grenzschutzes wurden seit Kriegsbeginn bis Mittwochmorgen 1,33 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Bei 93 Prozent handelt es sich laut einem Tweet des Grenzschutzes um ukrainische Bürger, ein Prozent sind Polen, teils Mitglieder der polnischen Minderheit in der Westukraine. Sechs Prozent seien Bürger aus fast 100 weiteren Staaten, die aus der Ukraine geflohen seien, heißt es.
Nicht bei allen Flüchtlingen handelt es sich dabei um Bedürftige. In vielen Städten sind auch die Hotels und Ferienwohnungen von besser betuchten Ukrainern ausgebucht worden. Dennoch: Eine unglaubliche Kraft von unten hat die Polen befallen, eine Stimmung der Achtsamkeit und Solidarität, die es seit dem Tod von Papst Johannes Paul II. 2005 nicht mehr gegeben hat. Die rechtspopulistische Regierung hat zwar ein Krisenzentrum eingerichtet und spricht große Worte im PiS-kontrollierten Staatsfernsehen TVP. Doch ein Augenschein an den Grenzen zeigt neben der staatlichen Feuerwehr vor allem spontane private Hilfe für die oft verfrorenen und psychisch enorm angeschlagenen Ankömmlinge. Der Grenzschutz drückt oft beide Augen zu, um die Abfertigung der Einreisenden zu beschleunigen. Doch insgesamt herrscht auch heute noch ein Chaos der Solidarität an der polnisch-ukrainischen Grenze sowie im Landesinneren. Dorthin wollen viele ukrainische Kriegsflüchtlinge, weil sie dort Verwandte oder Freunde unter den bis zu zwei Millionen Gastarbeitern aus der Ukraine haben.
Am Mittwoch hat die Regierung begonnen, die Hilfsleistungen auf eine gesetzlich geordnete Basis zu stellen. In zweiter Lesung wurde im Sejm ein von der Regierungspartei PiS eingebrachtes Gesetzespaket diskutiert, das ukrainischen Bürgern, die nach dem Beginn der russischen Invasion eingereist sind, eine Aufenthaltsbewilligung für 18 Monate sowie die Zuteilung der Sozialversicherungsnummer PESEL sichern soll. Auch sollen Gemeinden, die Flüchtlinge in Massenunterkünften aufnehmen, mit umgerechnet rund 1,5 Milliarden Euro unterstützt werden. Typisch für PiS wurde indes auch eine Passage ins Gesetzespaket eingefügt, die den Staatsbeamten – wie bereits bei der Covid-Pandemie – Straffreiheit bei der Beschaffung von Material und Dienstleistungen garantiert. „Ihr wollt eure Korruption legalisieren, das ist verächtlich“, wurde Vize-Innenminister Maciej Wasik im Sejm von der liberalen und linken Opposition niedergeschrien. Damit hat Polen der nächste politische Streit, mitten in der großen Ukraine-Solidaritätswelle, wieder eingeholt.
Großer Unterschied zwischen 2015 und 2022
Dem entgegengesteuert hat bisher einzig Staatspräsident Andrzej Duda, der ähnlich wie sein ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj in der Krise mächtig an Format gewinnt. Anfang der Woche lud er den oppositionellen Warschauer Stadtpräsidenten und ehemaligen Herausforderer Rafal Traskowski zu sich ein, um gemeinsam die Lage in der Ukraine und der Flüchtlinge zu diskutieren und unbürokratische Lösungen zu finden.
Gegenüber der EU indes beweist die Kaczynski-Regierung nun eindrücklich, dass man 2015 den Wahlkampf zwar auf dem Rücken von Flüchtlingen und mit der Angstmache vor Arabern gewonnen haben mag, aber 2022 die Nachbarn und slawischen Brüder aus der Ukraine mit offenen Armen aufnimmt. Polen hat dabei bisher nicht einmal EU-Solidarität bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise gefordert, sondern einfach selbst zugepackt und dies ebenso konsequent wie PiS damals, 2015, die ultimative Ablehnung einer Flüchtlingsverteilung via Quote lancierte.
All dies spielt im Supermarkt „Biedronka“ im verarmten Warschauer Stadtteil Praga keine Rolle. Hinter der Kasse stehen große Einkaufswagen, in die die Kunden Hygieneprodukte und Lebensmittel für die ukrainischen Flüchtlinge legen können. Ein Mann kauft gleich mehrere Schachteln „Vogelmilch“, eine Art polnische Pralinen, und deponiert sie dort.
De Maart
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