In der Moskauer Metro herrscht ein Gewusel wie eh und je. Zu den Stoßzeiten bilden sich vor den steil hinabführenden Rolltreppen Menschentrauben. Auf dem Bahnsteig ist es unmöglich, die geforderte Distanz von eineinhalb Metern einzuhalten. Und in den Waggons stehen die Passagiere dicht gedrängt. Seit Bürgermeister Sergej Sobjanin die Corona-Einschränkungen weiter gelockert hat, darunter die Home-Office-Pflicht von mindestens einem Drittel der Beschäftigten, müssen die meisten Arbeitnehmer wieder ins Büro. Eine Durchsage ermuntert die Moskauer zur Covid-Impfung: „Die Impfung ist wichtig für jeden“, sagt die männliche Stimme und rät zur Terminvereinbarung auf der Webseite der Stadtregierung, wo man sich für die kostenlose Immunisierung mit dem russischen Vakzin Sputnik anmelden kann.
Im Februar 2021, ein knappes Jahr nach der ersten bestätigten Covid-Infektion auf russischem Boden, herrscht in Russland weitgehend Normalität. Restaurants und Bars sind voll, Theater und Kinos laden zu Vorstellungen, Fitnesscenter und Hotels haben geöffnet. In Russland sind so gut wie keine Corona-Einschränkungen mehr in Kraft. (Demonstrationen werden allerdings mit Verweis auf die epidemiologische Lage fast nie genehmigt.)
Das Virus bestimmt, anders als im Großteil Europas, nicht die täglichen Debatten. Spricht man mit Bürgern, so sind viele durch Selbstdiagnose überzeugt, dass sie Covid-19 bereits hatten. Den meisten reicht diese Vermutung.
Erst zwei Prozent geimpft
Mehr als vier Millionen bestätigte Fälle zählt man seit Beginn der Epidemie. Bei einer Gesamtbevölkerung von 144 Millionen wären das knapp sechs Prozent. Doch diese Zahlen gelten als viel zu niedrig. Wissenschaftsjournalist Alexander Jerschow vom Online-Medium Medusa geht davon aus, dass sich möglicherweise die Hälfte der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert hat. Doch angesichts der neuen Stämme sei Vorsicht geboten, sagt Jerschow. Ihre Auswirkungen ließen sich noch nicht abschätzen, da das Infektionsgeschehen in Russland jenem Europas hinterherhinke. Entscheidend sei nun das Tempo der Impfkampagne.
Doch da sieht es nicht besonders rosig aus. Offiziell sind knapp zwei Prozent der Bevölkerung geimpft worden. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit kann das Impfziel von 60 Prozent der erwachsenen Bevölkerung innerhalb des ersten Halbjahres 2021 nicht erreicht werden. Auch im internationalen Impf-Vergleich liegt Russland weit hinten. Angesichts der Tatsache, dass man als Welterster einen Impfstoff registrierte, ist das nicht besonders ruhmreich.
Doch der Kreml trumpft sowieso lieber international mit Sputnik auf. Man präsentiert sich als zuverlässiger Lieferant, stärkt seine Allianzen zu befreundeten Staaten und bietet sogar seinen Opponenten Hilfe an. Wurden die russischen Hilfslieferungen zu Beginn der Corona-Krise im Westen als PR-Trick entlarvt, tritt Russland nun plötzlich als begehrter Player im internationalen Impf-Lieferwettbewerb auf.
Doch Moskaus globale Anerkennung ist wie die Normalität im Land mit hohen Opfern erkauft. Russland hat durch seine inoffizielle „Economy first“-Strategie das Schrumpfen des BIP auf vier Prozent begrenzt. Das Gesundheitssystem ist nicht wie befürchtet kollabiert. Doch die Bevölkerung hat der Staat nicht geschützt.
Totgeschwiegene Tote
Neue Daten zur Übersterblichkeit zeichnen ein grimmiges Bild. 2020 starben in Russland laut staatlicher Statistikbehörde Rosstat 2,1 Millionen Menschen. Das sind fast 324.000 Tote – oder 18 Prozent – mehr als im Jahr zuvor. Besonders tödlich waren die Monate November und Dezember. Russland gehört damit zu den weltweit am stärksten vom Coronavirus betroffenen Nationen, was Todeszahlen angeht. Zählt man die Todesfälle seit Beginn der Pandemie bis Mitte Februar 2021, führt Russland die globale Wertung mit 340 Toten pro 100.000 Einwohner an. Im Vergleich dazu: In Luxemburg betrug die Übersterblichkeit im Jahr 2020 knapp neun Prozent im Vergleich zum Durchschnitt der letzten fünf Jahre.
Zwar haben nicht alle „überschüssigen“ Todesfälle die Coronakrise zur Ursache, doch in der überwiegenden Zahl der Fälle ist davon auszugehen. Das bestätigen auch russische Gesundheitsbehörden. Unter Experten gilt die Übersterblichkeit als der „Goldstandard“, um die Auswirkungen der Pandemie zu analysieren. In Russland ist die Differenz zwischen Übersterblichkeit und offiziellen Corona-Toten sehr hoch: 58.000 Menschen werden offiziell als „Covid-Tote“ kommuniziert – fast sechs Mal weniger als die Übersterblichkeit.
Die Regierung versucht, die jüngst publizierten Zahlen kleinzureden oder von ihnen abzulenken. Der Kreml lobte in einer Reaktion das „effektive“ russische Gesundheitssystem. Vizepremierministerin Tatjana Golikowa kündigte einen „Rückgang der Sterblichkeit“ im Januar an. In den Kreml-nahen Medien werden die vielen Opfer der Pandemie nicht erwähnt. Das Thema wird sprichwörtlich totgeschwiegen.
De Maart
Gibt es denn überhaupt "Resultate" oder "Statistiken" über die Effektivität dieses Impfstoffs? Oder ist er ein reines Prestigeprodukt wie einst Sputnik der Satellit? Aber,ob Stalin oder Putin.Die eigene Bevölkerung war noch nie ein ernstes Thema.