Wenn es nach den EU-Botschaftern geht, die sich im Vorfeld von Gipfeltreffen bereits eingehend mit deren Verläufen und möglichen Ergebnissen beschäftigen, dann denkt niemand daran, einen neuen Schuldenturm zu errichten. Und so ist das mit jedem Tag neuer Hiobsbotschaften aus der Ukraine zunehmende Verlangen nach besseren finanziellen Spielräumen auch nicht im Entwurf der Abschlusserklärung für den informellen EU-Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag in Versailles enthalten. Doch Gastgeber Emmanuel Macron verfolgt die Idee eines neuen EU-Stärkungsfonds in ähnlicher Form bereits seit Jahren, und auch in der EU-Kommission gibt es Befürworter. Das sind nicht die kleinsten Teilnehmer des Gipfels.
Macron sieht als Konsequenz aus dem russischen Überfall auf die Ukraine zusätzliche Rüstungs- und Investitionsausgaben auf die EU-Mitglieder zukommen, die deutlich schneller finanziert werden müssen als gewöhnlich. Das Vorgehen seines deutschen Partners Olaf Scholz mit einem – schuldenfinanzierten – „Sondervermögen Bundeswehr“ dürfte ihn im Schielen auf Schulden darin nur bestärkt haben. Im Vorfeld des Gipfels sinnierte auch EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni über den Zusammenhang zwischen „neuen Problemen“ und „neuen Instrumenten“.
Von dort ist es nicht weit bis zu den Gemeinschaftsanleihen, wie sie die EU bereits als Sonderfonds aufgelegt hat, um die Corona-Lasten der Mitgliedsländer zu schultern. Gemessen an Corona dürften die Kriegskonsequenzen, verknüpft mit den Kosten für den Klimaschutz, noch deutlich größer ausfallen. Die deutsche Regierung, die bei EU-Schulden stets auf der Bremse steht, will das Thema ebenfalls nicht auf die Tagesordnung heben. Allerdings hatte sie bei vorangegangenen Treffen bereits angedeutet, dass sie bei besonderen Finanzierungshebeln für die Klimapolitik beweglich sein könnte, wenn die Rückkehr zu den Stabilitätskriterien zugleich beherzigt wird.
Ehrgeiz bei Energiewende deutlich steigern
Mit dem Willen, sich so schnell wie möglich aus russischer Energie-Abhängigkeit zu befreien, tut sich ein zusätzlicher Milliarden-Finanzierungsbedarf auf. Nicht zuletzt mit Blick auf den informellen Gipfel hatte die Kommission am Dienstag einen Energieplan vorgelegt, der bereits bis Ende des Jahres die Abhängigkeit von russischem Gas um zwei Drittel verringern und gleichzeitig die Gasspeicher bis Oktober auf 90 Prozent anfüllen soll. Allerdings müssen da die 27 Mitgliedsstaaten selbst noch einen Berg von Hausaufgaben erledigen. Ganz schnell mehr regenerative Energie aus dem Hut zaubern zu können, scheint schwer vorstellbar, wenn zwischen Antrag und Bau eines Windparks in Europa immer noch sieben Jahre für das Genehmigungsverfahren draufgehen, wie Energiekommissarin Kadri Simson bei der Vorstellung der Kommissionsvorschläge kritisierte.
Allerdings dürften die Staats- und Regierungschefs den Ehrgeiz bei der europäischen Energiewende noch einmal deutlich steigern. Der Druck auf einen zügigen Ausstieg aus den Lieferungen durch Russland ist durch den Importstopp der USA deutlich gewachsen. Und auch die bitteren Ermahnungen von Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj dürften ihre Wirkungen nicht verfehlen: Wenn Europa mit der einen Hand die stärksten Sanktionen aller Zeiten gegen Russland verhängt, um Moskau zu Waffenruhe und Rückzug zu bewegen, ergibt es keinen Sinn, mit der anderen Hand täglich eine sechsstellige Summe an Dollar für Energielieferungen und damit letztlich für eine Finanzierung des Krieges zu leisten. Noch heißt es im Entwurf der Abschlusserklärung dazu, die Abhängigkeit von russischen Gas-, Öl- und Kohlelieferungen solle „schrittweise“ abgebaut werden.
Beistandspflicht in der EU bekräftigen
Die von EU-Ratspräsident Charles Michel vorgelegte Tagesordnung sieht die Energie am ersten Gipfeltag an der zweiten Stelle. Vorrangig wollen sich die Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstag mit der Ukraine und den Verteidigungsfähigkeiten befassen. Als Ergebnis könnte es zu einem bemerkenswerten öffentlichen Hinweis kommen: auf die Beistandspflichten, die die EU-Mitglieder einander genauso schulden wie die NATO-Staaten. Allerdings ist dieser Passus nicht nur weniger bekannt als beim nordatlantischen Verteidigungsbündnis, die EU-Mitglieder haben auch mehr Freiheiten bei der Interpretation, was sie unter „Beistand“ verstehen. Es bleibt ihnen überlassen, ob sie einem von außen angegriffenen Mitglied sofort umfassend militärisch beispringen oder ihm auf andere Weise helfen.
Jedenfalls gilt die ins Auge gefasste Bekräftigung dieser Beistandspflicht in Form „gegenseitiger Hilfe“ zum einen als Signal an Washington, künftig mehr Verantwortung auf dem eigenen Kontinent zu tragen. Zum anderen natürlich auch an die EU-Mitglieder, die der Krieg Russlands gegen die Ukraine regelrecht schockiert hat: Die baltischen EU-Mitglieder, aber auch die skandinavischen Länder Schweden und Finnland, die in der EU, aber nicht in der NATO sind.
De Maart
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