MoldawienHöchste AIDS-Rate in Europa bereitet dem Land Sorgen 

Moldawien / Höchste AIDS-Rate in Europa bereitet dem Land Sorgen 
AIDS-Kampagne in der moldawischen Hauptstadt Chisinau Foto: imago images/Richard Wareham

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Moldawien hat neben der Ukraine die höchste AIDS-Rate in Europa. Nun macht die pro-westliche Regierung Druck aufs Gesundheitssystem.

Der Tag beginnt früh am hügeligen Stadtrand von Chisinau mit Ludmilla und der kleinen Alexandra. Die beiden sind die Hauptpersonen in einer Erzählung von Swetlana Popowitsch, der stellvertretenden Leiterin des AIDS-Programms der Republik Moldau. Die ganze Nacht über hatte Popowitsch vor 20 Jahren als frisch gebackene Ärztin um das Leben von Mutter und Kind gekämpft, die beide HIV-positiv sind. „Seit 2016 haben wir unser eigenes Programm, das Leben rettet“, sagt die Ärztin in der roten Bluse mit Stolz.

Seit 20 Jahren verfolgt sie das Ziel, die Zahl der AIDS-Toten in der kleinen Republik Moldau mit ihren 2,5 Millionen Einwohnern zu reduzieren. Doch die Ausweitung der Tests hat in ihrem Land zu einem dramatischen Anstieg der HIV-Positiven geführt. In keinem Land Europas gibt es prozentual mehr AIDS-Kranke, Tendenz steigend, sieht man vom kriegsversehrten großen östlichen Nachbar Ukraine ab, dessen AIDS-Kurve sich indes verflacht. 929 neue Fälle wurden 2022 in der Moldau gezählt, die meisten davon in Chisinau, wo jeder dritte Einwohner lebt. Insgesamt müssten es in den letzten zehn Jahren knapp über 16.000 gewesen sein, doch nur 67 Prozent von ihnen wissen davon. Weltweit liegt dieser Durchschnitt bei 95 Prozent. Also gilt in Moldawien, dem ärmsten Land Europas, die Devise „Weitertesten was das Zeug hält“.

Es ist viel besser geworden in den letzten Jahren, aber es gibt schon eine Diskriminierung, denn die transnistrischen Gesetze sind sowjetisch gefärbt und auch sehr russisch

Natalia, AIDS-Infizierte in Transnistrien

Denn heute sind in den allermeisten Fällen nicht mehr die von der von Regierungen (Luxemburg zahlte bisher 60 Millionen Euro, Tendenz steigend) und auch der EU unterstützten UNO-Stiftung „Global Fund“ finanzierten Medikamente das Problem, sondern deren regelmäßige Einnahme. Nur 73 Prozent der Patienten in der Moldau – zwei Drittel davon Männer – erklärten sich dazu bereit, klagt Popowitsch. Ein paar der Neinsager sind emigriert, zumeist nach Rumänien oder gleich nach Westeuropa, doch die meisten wollen ihre Erkrankung einfach nicht wahrhaben oder führen einen Lebensstil, der die regelmäßige Einnahme von Tabletten schwierig macht.

Unwissentlich angesteckt

Damit hat Natalia überhaupt kein Problem. Die Mittvierzigerin lebt in Tiraspol, der „Hauptstadt“ des pro-russischen Separatistengebiets Transnistrien, wo die AIDS-Rate dreimal höher ist. Der „Global Fund“ ist in beiden Teilen Moldawiens über eine Reihe von NGOs und Behörden aktiv und finanziert die gratis an die Patienten abgegebenen lebensrettenden Medikamente. Nicht zuletzt deswegen spricht Natalia nun via Zoom aus ihrer rund 70 Kilometer östlich gelegenen Heimatstadt, wo sie sich laut eigenem Bekunden „gut fühlt“. Angesteckt hatte sie sich in St. Petersburg von ihrem vor vier Jahren an AIDS verstorbenem Ehemann. Dieser hatte ihr seine tödliche Krankheit verheimlicht. Nachdem sie wegen hohen Fiebers HIV-positiv getestet wurde, hätte sie Russland ultimativ mit ihrer Tochter verlassen müssen, erzählt die Frau. „Ich war zuerst sehr traurig, doch das war ein Glücksfall für meine Gesundheit, da ich hier seit zehn Jahren alle nötigen Medikamente bekomme“, sagt sie. Genauso wie in Russland leidet Natalia jedoch unter dem Stigma der AIDS-Kranken. „Es ist viel besser geworden in den letzten Jahren, aber es gibt schon eine Diskriminierung, denn die transnistrischen Gesetze sind sowjetisch gefärbt und auch sehr russisch“, sagt Natalia offen. Dann bricht die Leitung ab. Ein persönliches Treffen in Tiraspol lehnt sie tags darauf ab.

Über 30 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR kämpfen wir noch immer mit jener Sowjet-Mentalität, wonach nicht der Kranke, sondern der Arzt alleine für die Gesundheit verantwortlich sei

Swetlana Popowitsch, Vize-Leiterin des Nationalen AIDS-Programms

Einfacher ist ein Treffen mit Wiktor und Lidia, einem Ehepaar aus der Ukraine, das die AIDS-Abteilung des Dermatologischen Spitals von Chisinau aufgeboten hat, um über ihren Alltag als HIV-Patienten zu erzählen. Die beiden aus Mykolajew bei Cherson leben seit anderthalb Jahren als Kriegsflüchtlinge in Chisinau. Der ehemalige Soldat hatte seine Frau unwissentlich angesteckt. „Erst als ich vor 20 Jahren Blut spenden wollte, kam es raus“, erzählt der stämmige Wiktor. „Wir waren natürlich sehr schockiert, aber zum Glück ist unsere Tochter gesund“, sagt er. Laut Wiktor wurden sie bereits in der Ukraine behandelt und brachten nach der Bombardierung ihres Hauses die entsprechenden medizinischen Papiere mit nach Chisinau. „Alles ging ohne Problem“, erzählt Wiktor, „die Ärzte hier haben unsere Tabletten etwas umgestellt, wir nehmen sie jetzt je täglich um 21 Uhr“, erzählt der Ukrainer, der bereits vor dem russischen Angriff ausgemustert und als Hausmeister eines Ferienheims arbeitete. „So ist es nun, wir können nicht mehr zurück, denn alles was wir hatten, ist zerstört“, sagt die vier Jahre jüngere und doch viel älter wirkende Lidia resigniert.

Lebensmittel für HIV-Tests

Patienten wie Lidia, Wiktor und Natalia machen Swetlana Popowitsch keine Sorgen. Sie sind sich ihrer Lage bewusst und diszipliniert. Anders verhält es sich mit den rund 16.000 intravenös spritzenden Drogensüchtigen, die alleine 2022 auf HIV getestet wurden und manchen der 8.000 getesteten Sex-Arbeiterinnen. Soweit es geht, werden sie in Präventionsprogramme integriert, genauso wie die je rund 5.000 getesteten Homosexuellen und Gefängnisinsassen. „Vielen AIDS-Kranken bei uns fällt es schwer, ihren Status zu akzeptieren“, sagt Popowitsch, die im Fernsehen mit Aufklärung gegen das weit verbreitete Stigma ankämpft.

Dazu hat die seit 2021 stramm pro-westliche Regierung der Moldau Lebensmittelkarten für jene HIV-Positiven ausgelobt, die ihre Tabletten nicht nur im Spital und beim Arzt, sondern auch selbstbestimmt zu Hause regelmäßig einnehmen. Auch gibt es eine Art „Kopfgeld“ ebenfalls in Form von Lebensmittelgutschriften für NGOs und Sozialarbeiter, die Gefährdete zu HIV-Tests bewegen.

„Über 30 Jahre nach dem Zerfall der UdSSR kämpfen wir noch immer mit jener Sowjet-Mentalität, wonach nicht der Kranke, sondern der Arzt alleine für die Gesundheit verantwortlich sei“, klagt Swetlana Popowitsch, die Vize-Leiterin des Nationalen AIDS-Programms. Zusammen mit der Regierung hat sie sich dennoch ein hohes Ziel gesteckt: Bis 2030 soll die AIDS-Krise in Moldawien im Griff sein.