„Verteidigt endlich eure Werte!“Die belarussische Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja im Tageblatt-Interview

„Verteidigt endlich eure Werte!“ / Die belarussische Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja im Tageblatt-Interview
Für Svetlana Tichanowskaja besteht Politik in Belarus aus „Gewalt und Repression“ Foto: AP/dpa/Heikki Saukkomaa

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Die belarussische Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja fordert von Europa mehr Mut zu unkonventioneller Hilfe und erklärt, warum sie keine Politikerin sein will.

Tageblatt: Vor fast einem Jahr wurde Ihr Mann Sergej verhaftet, der bei der Präsidentenwahl im August 2020 antreten wollte. Sie stiegen für ihn ins Rennen. In Ihrem Leben ist seither kein Stein mehr auf dem anderen. Gibt es Momente, in denen Sie sich nach Ihrem früheren Alltag sehnen?

Swetlana Tichanowskaja: Jeden Tag! (lacht) Natürlich will ich Frieden und Ruhe. Ich will, dass mein Mann zu seinen Kindern zurückkehrt. Aber ich verstehe, dass das Leben mich ausgewählt hat. Ich bin gezwungen, zu kämpfen.

Sie würden also sagen, es war gar nicht Ihre Wahl?

Es ist so passiert. Ich hatte nicht vor, in der sogenannten Politik in Belarus mitzumachen. Zunächst tat ich es aus Liebe, später konnte ich nicht mehr abseits stehen. Gemeinsam mit den anderen Belarussen gehe ich unseren Weg weiter.

Sie reisen viel, sprechen auf Konferenzen, treffen Diplomaten. Diplomaten sind bekanntlich äußerst höfliche Menschen, aber sie sagen selten, was sie wirklich denken. Wie können Sie bei denen etwas erreichen?

Ich bin keine Politikerin im gewöhnlichen Sinn. Natürlich muss man bei Diplomaten die Kunst beherrschen, zwischen den Zeilen zu lesen. Aber meine Kraft liegt darin, dass ich meine Botschaften nicht verschleiere. Ich sage direkt, was mir und den anderen Belarussen auf dem Herzen liegt. Bis jetzt läuft das ganz gut. Die Welt der Politik ist eine, in der man seine Seele nicht offenbart – genau das tue ich aber. Womöglich wirkt das manchmal sonderbar. Aber genau das berührt andere Politiker. Ich will mich bis zu ihren Herzen durchschlagen, damit auch sie den Schmerz der Belarussen fühlen.

Proteste gegen Lukaschenko

Nach der weithin als gefälscht geltenden Präsidentenwahl am 9. August hatten Hunderttausende Menschen den Rücktritt Lukaschenkos und Neuwahlen gefordert. Die Polizei ging brutal gegen Demonstranten vor und nahm Zehntausende fest. Der als „letzter Diktator Europas“ kritisierte Staatschef hatte sich nach 26 Jahren an der Macht erneut zum Sieger erklären lassen. Die EU erkennt ihn nicht mehr als Präsidenten an. Er stützt sich auf Russland als Verbündeten.
Über den Winter hatte es keine größeren Protestaktionen mehr gegeben – auch aus Angst vor Polizei-Gewalt. Erst am vergangenen Donnerstag gingen zum sogenannten Tag der Freiheit erstmals wieder Hunderte Menschen gegen Lukaschenko auf die Straße. Die Behörden sprachen von mehr als 200 Festnahmen. Ermittelt wurde danach zudem gegen Autofahrer, die aus Solidarität mit den Demonstranten auf der Straße gehupt hatten.
Die Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja, die von der Opposition als wahre Siegerin der Präsidentenwahl angesehen wird, wirbt im Tageblatt-Interview erneut für Verhandlungen mit der autoritären Führung unter internationaler Vermittlung.

Mir scheint, für Sie ist Politik als Begriff eher negativ besetzt. Ist diese Auffassung geprägt von den Erfahrungen in Belarus?

Ja, für uns ist Politik etwas Schlimmes, Gefährliches. Für seine politische Einstellung kann man ins Gefängnis kommen. In Belarus besteht Politik aus Gewalt und Repression. In demokratischen Ländern ist es interessant, Politiker zu sein, da geht es um Konkurrenzkampf, originelles Denken usw. Manche sagen mir, ich sei bereits eine Politikerin, weil ich mit Politikern rede. Wenn deine Seele für jeden Belarussen leidet, dann bist du noch kein Politiker. Du fühlst den Schmerz. Ich will nicht, dass der Moment kommt, wo ich sagen werde, ich bin mehr Politikerin als Frau, Mutter und Ehefrau.

Kandidatin Tichanowskaja kurz vor der Präsidentenwahl im vergangenen August
Kandidatin Tichanowskaja kurz vor der Präsidentenwahl im vergangenen August Foto: AP/dpa/Sergei Grits

Zu Belarus’ Nachbarn Russland: Wie stehen Sie zu Alexej Nawalnys Rückkehr?

Es braucht Mut, um zurückzukehren, wenn du weißt, dass du verhaftet wirst. Genauso mutig war Maria Kolesnikowa, die sich entschied, in Belarus zu bleiben, und jetzt im Gefängnis sitzt. Nawalny tat einen bewussten Schritt. Er hat den Weg des Kampfes gegen das System gewählt. Das ist zu würdigen.

In den demokratischen Ländern sind die Menschen an die Freiheit und den Rechtsstaat gewöhnt. Sie haben vergessen, was der Kampf für Freiheit anderen Menschen abverlangt.

Für Menschen im Westen ist seine Entscheidung oft schwer verständlich.

In den demokratischen Ländern sind die Menschen an die Freiheit und den Rechtsstaat gewöhnt. Sie haben vergessen, was der Kampf für Freiheit anderen Menschen abverlangt. Wenn du Prinzipien hast und den Willen zum Wandel, dann bist du bereit, deine Freiheit und Gesundheit zu opfern, um deinen Standpunkt zu verteidigen. Die Menschen im Westen können sehr froh sein, dass sie das nicht tun müssen. Aber man darf nicht vergessen, dass anderswo Menschen leiden und unterstützt werden sollten.

Haben Sie über Rückkehr nachgedacht?

Wenn ich zurückkehre, würde ich wohl ebenfalls verhaftet werden. Ich kann in Freiheit mehr tun als im Gefängnis. Momentan sehe ich das zumindest so.

Vor Kurzem haben Sie eine zweite Protestwelle ausgerufen. Können Massendemonstrationen, wie sie im Vorjahr stattfanden, überhaupt wiederholt werden?

Demonstrationen sind ein Format, zu dem die Menschen zurückkehren wollen, auch wenn ihnen Gewalt und Repressionen drohen. Der Ärger über das Regime ist nicht weniger geworden. Der Wille zur Veränderung ist noch immer da. Das Regime will die Bürger mit Waffen, Schlagstöcken und Folter einschüchtern. Doch es gelingt ihm nicht. Die Menschen haben eine innere Notwendigkeit, sich zur Wehr zu setzen.

Im Westen hofiert – aber auch wirklich unterstützt? Tichanowskaja mit dem Sacharow-Preis des Europaparlaments.
Im Westen hofiert – aber auch wirklich unterstützt? Tichanowskaja mit dem Sacharow-Preis des Europaparlaments. Foto: AFP/John Thys

Straßenaktivismus ist mit einem großen Risiko für Leib und Leben verbunden. Befinden wir uns nicht schon in einer anderen Etappe?

Die Belarussen suchen einen Ausweg aus der Krise. Wir, mein Team und ich, schlagen einen friedlichen Ausweg aus der Krise vor. Wir fordern Verhandlungen unter internationalem Vorsitz. Die Krise ist nicht vorüber. Lukaschenko kann sie verlängern, aber der Preis wird immer höher. Egal, wie lang er es hinauszögert, es wird immer zu Gesprächen führen. Deshalb rufen wir das Regime auf: Kommt zur Besinnung! Es ist auch euer Land! Wir müssen hier gemeinsam leben!

Bisher konnte er das Land aus seiner Sicht ganz gut mit Repression regieren.

Das kann man doch nicht Regierung nennen! Das führt nirgendwohin, außer zur Verschärfung der Krise. Ich glaube noch immer an die Möglichkeit der friedlichen Beilegung des Konflikts.

Reden Sie weiterhin über uns! Nur wenn die großen Demos wegen den Repressionen kleiner geworden sind, heißt es nicht, dass sich die Lage beruhigt hat. Nein, sie hat sich verschlechtert. Wir rufen auf, den Druck auf das Regime in Minsk zu verstärken.

Gibt es Kräfte im Regime, die insgeheim auf Ihrer Seite stehen?

Es sind recht viele. Für Menschen im Westen ist das schwer zu verstehen. Aber: Dort arbeiten viele, die Befehle ausführen, nicht, weil sie daran glauben, sondern weil sie Angst haben. Jede Initiative wird bestraft. Es ist ein System, das schon längst veraltet ist. Sehr viele Beamte, vor allem jüngere, haben es satt. Wir haben Kontakte zu dem Apparat. Natürlich haben nicht alle den Mut, Kritik offen anzubringen. Aber Lukaschenkos Fall ist ein unausweichlicher Prozess.

Welche Unterstützung erwarten Sie sich von der Europäischen Union?

Unsere Revolution – oder Evolution –, die kriegen wir hin. Aber Hilfe ist dabei sehr erwünscht. Reden Sie weiterhin über uns! Nur wenn die großen Demos wegen den Repressionen kleiner geworden sind, heißt es nicht, dass sich die Lage beruhigt hat. Nein, sie hat sich verschlechtert. Wir rufen auf, den Druck auf das Regime in Minsk zu verstärken. Es ist gut, dass die Staaten der Europäischen Union Lukaschenko nicht als Staatschef anerkannt haben. Aber man müsste das noch härter ausdrücken. Auch ökonomische Maßnahmen sind wichtig. Verteidigt endlich die Werte, die ihr deklariert: Menschenrechte und Redefreiheit. Die belarussische Zivilgesellschaft müsste unbürokratischer unterstützt werden. Hilfe über irgendwelche offiziellen Kanäle kommt nicht bei den Leuten an. Stellt eure Hilfe auf ein neues Niveau, werdet flexibler, findet unkonventionelle Methoden!