GroßbritannienCovid-Untersuchung: Ex-Premier Boris Johnson im Zeugenstand

Großbritannien / Covid-Untersuchung: Ex-Premier Boris Johnson im Zeugenstand
Kein Wunder, dass das Haar zerzaust ist: der ehemalige Premier Boris Johnson während seiner Aussage Foto: UK Covid-19 Inquiry/AFP

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Eine Entschuldigung an die Opfer, Lob für die Untersuchungsführerin, einige Worte der Selbstkritik – mit einer Mischung aus Selbstbewusstsein und demonstrativer Demut hat Boris Johnson am Mittwoch seine mit Spannung erwartete Aussage vor der unabhängigen Covid-Untersuchungsrichterin begonnen. Welch ernste Folgen die Pandemie haben würde, „hätten wir früher kapieren sollen“, räumte der frühere Premierminister ein. „Zweifellos sind Fehler gemacht worden.“

Das Geschehen in einem Bürohaus nahe des West-Londoner Bahnhofs Paddington geht auf eine Initiative des damaligen Regierungschefs zurück. Wie auf der Insel üblich wird die Untersuchung von einer früheren Höchstrichterin, Baronin Heather Hallett, geführt. Sie präsidiert über einen gewaltigen Saal, in dem Dutzende von Anwälten die diversen Opfergruppen vertreten. Der Zeuge sitzt auf einem leicht erhöhten Podium und muss sich den Fragen von Halletts Kronanwalt stellen. Mit zweiminütiger Verzögerung wird die Anhörung im Internet übertragen.

Wie andere Ex-Minister zuvor begann auch Johnson seine Befragung mit einer Entschuldigung: Er übernehme die Verantwortung für „den Schmerz, den Verlust, das Leiden“ so vieler Menschen in Großbritannien. Der 59-Jährige hat zwei Tage Zeit, um den Aussagen von früheren Weggefährten, hohen Beamten und Beratern zu widersprechen, die sein Regierungshandeln als irrational, widersprüchlich und verantwortungslos gekennzeichnet hatten. Die Brexit-Insel hatte mehr als 226.000 Covid-Tote zu beklagen und verzeichnete eine der höchsten Todesraten Westeuropas, nicht zuletzt, weil der erste Lockdown im März 2020 viel zu spät erfolgte.

Johnson wollte dem inzwischen durch mehrere Zeugenaussagen weitverbreiteten Eindruck entgegenwirken, er habe im Verlauf des Jahres 2020 zunehmend den Tod sehr alter Menschen billigend in Kauf genommen. Das gesamte Jahr 2020 sei „tragisch, tragisch“ gewesen, bestätigte Johnson, der in einer Situation erkennbar mit den Tränen kämpfte.

Zum Ausgleich für die eingeräumten Fehler wollte sich der Ex-Premier den tatsächlich hervorragend gelungenen frühen Einsatz von Impfstoffen auf die Fahne schreiben – ein Vorhaben, das die Untersuchungsführerin Heather Hallett mit Verweis auf eine spätere Phase ihrer Anhörungen unterband. Dass Johnsons 233-seitiger Rechtfertigungs-Schriftsatz seit Tagen in den Londoner Medien Niederschlag fand, veranlasste die Baronin zu einer eindringlichen Ermahnung an alle Beteiligten, keine vertraulichen Dokumente an die Öffentlichkeit zu geben.

Aussage im Vorfeld mit Anwalt geübt

Eine Gruppe von Covid-Geschädigten hatte eine Antwort auf Johnson vorbereitet: Stumm standen die vier Frauen auf und hielten den Slogan „Die Toten können Ihre Entschuldigung nicht hören“ hoch. Hallett verwies die Protestierenden des Saals. „Wir akzeptieren seine Entschuldigung nicht“, erläuterte die Gruppensprecherin Fran Hall später der BBC. „Er kann unserer Trauer um Menschen, die nicht hätten sterben müssen, keine Linderung verschaffen.“

Johnson hatte seine stundenlange Aussage vorab mit einem teuren Anwalt geübt, ähnlich wie im Vorfeld seines Auftritts vor dem parlamentarischen Ausschuss, der seine Äußerungen im Unterhaus untersuchte. Damals wurde das Gesicht des Betreuers lang und immer länger, je mehr sich der Ex-Premier um Kopf und Kragen redete. In den ersten Stunden seiner Covid-Anhörung hingegen bewahrte Johnson Haltung und beschränkte sich weitgehend auf defensive Höflichkeit.

Wenn eine Reihe von höchst talentierten und motivierten Leuten in permanenter Besorgnis arbeiten, werden sie andere verantwortlich machen und kritisieren.

Boris Johnson, ehemaliger Premier

Dieses Vorgehen konstrastierte stark mit der Aussage von Johnsons Chefberater zu Pandemiezeiten Dominic Cummings. Den einstigen Strategen der erfolgreichen Brexit-Kampagne auch nur in die Nähe der Macht gelassen zu haben, stellten mehrere Zeugen als schweren Fehler Johnsons dar. Cummings habe für eine „toxische Atmosphäre“ gesorgt, lautete die Analyse der früheren Chefbeamtin Helen McNamara. Nachdem Cummings im Februar 2020 für den Rücktritt des Finanzministers Sajid Javid gesorgt hatte, habe eine „Angstkultur“ geherrscht, diagnostizierte Gesundheits-Ressortchef Matt Hancock. Diesen wiederum denunzierte der Chefberater gegenüber Johnson wiederholt als „nutzlos“ oder „völlig ungeeignet“ und forderte beinahe wöchentlich seinen Rausschmiss, ähnlich wie der damalige Kabinettssekretär Mark Sedwill.

Wissenschaftliche Berater in die Pflicht genommen

Johnson versuchte, sich über die Niederungen persönlicher Rivalitäten zu erheben: Als Premierminister werde man „dauernd dazu aufgefordert, diesen und jene zu feuern“. In der Pandemie sei besonderer Stress hinzugekommen: „Wenn eine Reihe von höchst talentierten und motivierten Leuten in permanenter Besorgnis arbeiten, werden sie andere verantwortlich machen und kritisieren.“ Das sei normales menschliches Verhalten. Der Ex-Premier räumte ein, dass sein engster Beraterkreis zu wenige Frauen enthalten habe.

Auf subtile Weise nahm der Zeuge seine engsten wissenschaftlichen Berater in die Pflicht. Diese hätten noch bis Mitte März 2020 von einem Lockdown abgeraten. Zur Begründung hieß es damals, es könne sich in der Bevölkerung eine „Lockdown-Müdigkeit“ einstellen und dadurch die harten Maßnahmen konterkarieren. Hingegen hätten die gleichen Wissenschaftler im Herbst auf einen möglichst frühen zweiten Lockdown gedrängt.

Johnsons Anhörung soll bis Donnerstag andauern, kommende Woche muss Premierminister Rishi Sunak, zu Pandemie-Zeiten Finanzminister, seine Aussage machen. Hallett will bis Ende des Jahres eine Zwischenbilanz vorlegen, ihr Schlussbericht wird jedoch frühestens 2027 erscheinen.