Montag27. Oktober 2025

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ImpfstreitBritische Wissenschaftler appellieren an Vernunft, London übt sich in Schadenfreude

Impfstreit / Britische Wissenschaftler appellieren an Vernunft, London übt sich in Schadenfreude
Vakzin des Anstoßes: Um AstraZeneca ist ein Streit über Impfnationalismus entbrannt  Foto: AFP/Justin Tallis

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Der Streit zwischen London und den Kontinentaleuropäern kocht weiter hoch. Brüssel droht mit Exportstopps. Die Briten sehen die Sache grundverschieden. 

Mit einer Mischung aus Schmeicheleien, subtilen Drohungen und prahlerischem Auftrumpfen hat die britische Regierung am Donnerstag versucht, Einfluss auf die Beratungen des virtuellen EU-Impfgipfels zu nehmen. Premier Boris Johnson wich im Parlament Fragen nach etwaigen Gegenmaßnahmen im Fall eines Boykotts aus Brüssel aus. „Unsere europäischen Freunde“ sollten nur bedenken, so der konservative Regierungschef, dass Protektionismus zukünftige Investitionsentscheidungen innovativer Pharmafirmen beeinflussen werde. Hingegen sprach Gesundheitsminister Matthew Hancock mit Schadenfreude über den Streit des 27er-Clubs mit dem Unternehmen AstraZeneca (AZ): Der britische Liefervertrag übertrumpfe den EU-Vertrag. „Man nennt das Vertragsrecht, das ist sehr eindeutig.“

Die britisch-schwedische Firma vertreibt das an der Uni Oxford entwickelte Covid-Medikament AZD1222 zum Selbstkostenpreis, es ist viermal so günstig wie das Konkurrenzprodukt von Biontech/Pfizer. Allerdings hat AZ mehrfach mehr versprochen als es tatsächlich halten konnte. So blieben die Lieferungen an EU-Staaten im ersten Quartal 2021 um 70 Prozent hinter den Brüsseler Erwartungen zurück. Da trete eine Charakterschwäche des charismatischen AZ-Vorstandschefs Pascal Soriot zutage, kommentiert die Financial Times (FT): „Eine Tendenz, zu viel zu versprechen“.

Die Firma hat stets argumentiert, man habe gegenüber der EU eine Absichtserklärung (best effort) abgegeben, nicht aber bestimmte Liefermengen vertraglich zugesichert. Dass man Großbritannien zuverlässig und in großer Menge beliefere, sei der großzügigen Förderung durch London geschuldet, die sich sowohl auf die Entwicklung des Impfstoffes wie auf die nötige Expansion der Lieferkette erstreckte.

Brüssel kontert, London impft

Im FT-Interview schlug Hancock in die gleiche Kerbe. „Die EU hat einen Best-effort-Vertrag, wir haben eine exklusive Liefervereinbarung.“ Hingegen haben führende Mitglieder der Brüsseler Kommission stets auf die Gegenseitigkeit der Impfversorgung hingewiesen: Während der Kontinent mehr als zehn Millionen Dosen nach Großbritannien geliefert habe, betrage die Liefermenge in der Gegenrichtung null. „Unserem Gefühl nach gibt es Impfnationalismus eher auf der anderen Seite des Ärmelkanals“, findet der französische Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton.

Die Gesundheitsbehörden auf der Insel luden gestern alle über 50-Jährigen und jüngere Menschen mit gesundheitlichen Vorbelastungen zur baldigen Impfung ein. Man solle bis spätestens Montag einen Termin für die erste Dosis vereinbaren, hieß es. Im April wird es erklärtermaßen zu einem Engpass kommen. Einerseits haben die Hersteller weniger Dosen in Aussicht gestellt, andererseits müssen nun zunehmend größere Zahlen all jener ihre zweite Dosis erhalten, die im Januar ihren ersten Pieks bekamen.

Gegen den anfänglichen Protest der Hersteller hatten die britischen Verantwortlichen zur Jahreswende das Intervall zwischen erster und zweiter Impfung von drei Wochen auf bis zu zwölf Wochen vergrößert. Dadurch konnten bis Dienstag 42,2 Prozent aller Briten mindestens einmal gegen SARS-CoV-2 immunisiert werden, darunter mehr als die Hälfte aller Erwachsenen. Bei den über 70-Jährigen lag die Impfquote bei 95 Prozent. Im vergleichbar großen Frankreich hat 9,7 Prozent der Bevölkerung eine Immunisierung erhalten, in Deutschland betrug die Rate 9,5 Prozent. Allerdings haben dort mehr Menschen (4,2 Prozent) bereits beide Dosen erhalten als im Königreich (3,7).

Jetzt brauchen wir von den Politikern Staatskunst und Diplomatie

Jeremy Farrar, Gesundheitsforwscher

Unterdessen haben führende Wissenschaftler auf der Insel vor einer Fortsetzung des Impfdisputs gewarnt. Professor Anthony Harnden von der Uni Oxford mahnte das Königreich und die EU zur Zusammenarbeit. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns einer globalen Pandemie befinden“, sagte der Spezialist für die öffentliche Gesundheit der BBC. Jeremy Farrar vom milliardenschweren Wellcome Trust, einer Stiftung zur Gesundheitsforschung, lobte den länderübergreifenden Beitrag von Wissenschaftlern bei der Bekämpfung von Covid-19. „Jetzt brauchen wir von den Politikern Staatskunst und Diplomatie“, teilte Farrar mit und wandte sich ausdrücklich gegen Exportbeschränkungen. Im Gegenteil solle das Königreich nicht benötigte Impfstoffe freigeben, und zwar sowohl für den europäischen Kontinent wie für das Covax-System, mit dem Entwicklungsländer beliefert werden sollen. „Damit würde Großbritannien global gut dastehen.“

An die eigene Bevölkerung gerichtet, warnte Farrar vor neuen Mutationen. Der zuletzt heiß diskutierte Sommerurlaub an südlichen Stränden müsse deshalb vorläufig noch zurückstehen. Denn vielen EU-Ländern stehe in den kommenden „ein, zwei Monaten“ durch die aggressiveren Mutanten aus England und Südafrika eine ähnlich harte Zeit bevor, wie sie die Insel zu Jahresbeginn durchlitten hat. Im Januar waren Zehntausende von Neuinfektionen und rund 1.000 Tote an der Tagesordnung. Mittlerweile verzeichnet die Insel durchschnittlich etwa 5.000 positive Corona-Tests sowie 82 Verstorbene pro Tag.