„Für diesen kleinen Becher verkaufen wir unsere Souveränität bestimmt nicht“, poltert Rachon auf dem von Jaroslaw Kaczynskis Regierungspartei PiS beherrschten Nachrichtensender „TVP Info“ im Politprogramm „Nach 20 Uhr“. Die Sendung handelt vom EU-Budgetentwurf und der Koppelung der Auszahlung von Geldern aus Brüssel an die Einhaltung rechtsstaatlicher Normen. Dem haben Warschau und Budapest soeben gemeinsam widersprochen und mit einem formellen Veto der beiden Regierungschefs Mateusz Morawiecki und Viktor Orban den Haushalt der Union blockiert. Die Zeit drängt, zumal ans EU-Budget von 1,1 Billiarden Euro auch 750 Milliarden Euro Corona-Soforthilfen gekoppelt sind. Auch Polen soll aus den beiden Töpfen jährlich Milliarden Euro erhalten.
Was auch immer Rachon mit seinen Legosteinen im Plastikbecher bezwecken wollte, klar werden muss einzig: Polens Souveränität ist angeblich wieder einmal bedroht und der Feind sitzt in Brüssel und Berlin. In Berlin sitzt er, weil Deutschland angeblich ohnehin die EU regiert und dieses Halbjahr ganz offiziell, denn Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft inne.
Alles werde gut, sobald am 1. Januar 2021 Portugal den EU-Vorsitz übernehme, schätzt Polens einstiger EU-Beitrittsverhandlungsführer Jacek Saryusz-Wolski, ein konservativer Liberaler, der wie Morawiecki vor ein paar Jahren zu Kaczynskis PiS gewechselt ist. Nun aber stehe es sehr schlecht, so Saryusz-Wolski laut dem regierungsfreundlichen Nachrichtenportal wpolityce.pl, denn links-liberale Kreise wollten den Polen von Brüssel aus diktieren, wie sie zu leben, zu richten und zu regieren hätten. „Brüssel will, dass Polen Flüchtlinge aufnimmt und in Weltanschauungsfragen eine liberale Abtreibungsregelung, Euthanasie und Rechte für sexuelle Minderheiten durchsetzt“, behauptet Saryusz-Wolski. Und das alles soll, so der heutige PiS-Sympathisant, mittels des EU-Haushaltsgesetzes 2021-27 erzwungen werden.
Die EU wolle alles bestimmen
TV-Moderator Rachon erklärt es dem heimischen Publikum so: Die Rechtsstaatlichkeit liege EU-Bürokraten à la Frans Timmermans und Ursula von der Leyen angeblich am Herzen, doch „seit klar geworden ist, dass wir unsere Gerichte nach deutschem Beispiel ausrichten“, seien Weltanschauungsfragen der links-liberalen EU-Elite ins Zentrum der Attacken auf Warschau und Budapest gerückt. Laut TVP-Mann Rachon sollen so Adoptionen durch LGBT-Paare aufgezwungen werden, später ginge es dann „um alles“ von Polens Staatsgrenze bis zur Höhe der Lehrerlöhne. Ohne das beherzte Veto Morawieckis bestimme also künftig nicht mehr der polnische Wähler die Geschicke des eigenen Landes, sondern „eine EU-Wählermehrheit“, so Rachon.
„Wenn wir nun nachgeben, verlieren wir unsere Staatlichkeit und werden zu einer von der EU regierten Provinz“, ist der Politologe Zurawski vel Grajewski auf dem Portal wpolityce.pl überzeugt. Polen soll also zu einer Kolonie Brüssels werden, nur weil allen voran die Niederlande, Dänemark, Schweden und Finnland darauf bestehen, dass die im Sommer von allen einstimmig – also auch Polen und Ungarn – vereinbarte Verknüpfung von EU-Mittelausschüttung und Rechtsstaatlichkeit nun konkret festgeschrieben werde.
Ins gleiche Horn blies am Mittwoch in Budapest in einer Regierungserklärung Viktor Orban, der sich immer wieder mit Kaczynski und Morawiecki informell trifft, um EU-politische Vorstöße auszuhecken. „Heute gelten in Brüssel nur jene Länder als rechtsstaatlich, die Migranten ins Land lassen“, sagte Orban. „Jene Länder, die ihre Grenzen schützen, können in Brüssel nicht als rechtsstaatlich gelten“, giftete Orban und betonte dabei, Budapest liege genauso wie allen andern an einer schnellen und auch transparenten Auszahlung der EU-Mittel. „Wir sind offen für einen Kompromiss“, säuselte Orban. Dann verglich er in seiner Regierungserklärung die Rechtsstaatlichkeit mit dem ungarischen Kampf gegen die kommunistische Diktatur, der von den Anführern seiner Regierungspartei „Fidesz“ geleitet worden sei. Heißt im Klartext: Da Orban damals (angeblich) der wichtigste Anti-Kommunist Ungarns war, kann er heute alleine bestimmen, was rechtsstaatlich ist.
Polen wolle nur Interessen schützen
Sowohl gegen Polen wie Ungarn hat die EU-Kommission Rechtsstaats- und EU-Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, die sich jedoch in der Praxis als Papiertiger entpuppt haben. Nicht zuletzt deshalb wollen 25 von 27 EU-Mitgliedern das Problem des Rechtsstaatsbruchs in Zukunft, auch durch andere Mitglieder zwischen Zypern und Finnland, mit einem finanziellen Anreiz lösen. Wer demnach künftig rechtsstaatliche Grundsätze bricht, muss mit der Kürzung von EU-Fördermitteln rechnen, hat also finanzielle Einbußen.
Mit Flüchtlingen, LGBT-Adoption und Abtreibungsregelungen hat dies herzlich wenig zu tun, auch wenn sowohl Orban wie Kaczynski ihre eigene Bevölkerung dies augenscheinlich glauben machen wollen. Genauso wenig handelt es sich übrigens beim Veto Warschaus um eine Vorbereitung auf den EU-Austritt Polens. „Diese Behauptung ist schlichtweg Quatsch“, sagt Saryusz-Wolski. „Wie oft muss man noch erklären, dass das Veto ein Instrument ist, das alle Länder einsetzen, um eigene Interessen zu schützen. Dieses Instrument stärkt unsere Mitgliedschaft in der EU“, so der 2019 von PiS unterstützte EP-Abgeordnete, einer von Polens besten EU-Kennern.
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