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Der britische Philosoph Isaiah Berlin teilte in einem berühmten Aufsatz die Menschen in zwei Kategorien ein: die Igel und die Füchse. Füchse würden viele verschiedene Sachen wissen. Igel eine große. Laut Berlin trachten die Igel nach einem „allumfassenden System menschlicher Handlungen und moralischer Werte“, während Füchse „viele Ziele verfolgen“, oft „ohne inneren Zusammenhang, verbunden durch kein moralisches oder ästhetisches Prinzip“. Während die Igel sich in ihrer Gewissheit „einigeln“, bleiben die Füchse „verstreut und weitschweifig“. Womit sie letztlich erfolgreicher seien.

Wäre dem so, ständen die Chancen von Xavier Bettel recht gut, nach dem 8. Oktober sich selbst als Premierminister zu beerben. Unter den vier Anwärtern auf das Amt ist Bettel offensichtlich der Fuchs, unstetig und verspielt, während Paulette Lenert, Luc Frieden und Sam Tanson den Igeln zuzurechnen sind. Ihrer Weltanschauung verpflichtet.

Zwar funktioniert die Welt nicht nach den Gedankenspielen der Philosophen. Wahlen schaffen politische Kräfteverhältnisse. In einer repräsentativen Demokratie mit immer mehr Parteien im Angebot kommt es zu einer zunehmenden Zersplitterung der politischen Kräfte.

Bis zur Oktober-Wahl kann und wird noch manches passieren. Schenkt man dem jüngsten Politbarometer von Wort und RTL Glauben, scheint mit Luc Frieden der Niedergang der CSV gebremst zu sein. Statt dem vorher prognostizierten Verlust von sechs Sitzen würde die ehemals dominierende Rechtspartei gegenüber der letzten Wahl deren bloß vier verlieren. Von 21 auf 17 Sitze herabfallen. Nicht gerade ein überzeugender Wählerauftrag.

Das nationale Wahlsystem mit seinem unübersichtlichen Panaschieren und Kumulieren ist immer für Überraschungen gut. Die Lotterie der Restsitze kann das Endresultat unerwartet verfälschen. Bei der letzten Wahl schaffte Jean Asselborn mit seinem „merde alors“ so viele Präferenzstimmen, dass die LSAP im Südbezirk einen Restsitz erhielt. Damit die knappste aller Mehrheiten für die Dreierkoalition retten konnte.

Der Zusammenhalt von Ex-Gambia mag brüchiger sein als vor fünf Jahren. Doch wird die Wahlkampagne mit den globalen Anschuldigungen der Oppositions- gegen die Regierungsparteien zum automatischen Schulterschluss zwischen den drei Partnern der Koalition führen. Die laut der zitierten Umfrage (LSAP 12 Sitze, DP 11 Sitze, „déi gréng“ 8 Sitze) ihre kurze Mehrheit behalten könnte.

Ehe zu dritt?

Jedenfalls sieht es momentan nicht danach aus, als ob zwei Parteien genügend Sitze erhalten könnten, um eine stabile Koalition um LSAP, DP oder CSV zu bilden. Die nächste Regierung wird aller Wahrscheinlichkeit nach wieder mehrfarbig sein. Wobei sich die Frage des zukünftigen Premierministers umso brennender stellt. Ob Igel oder Fuchs, die persönliche Popularität der vier Anwärter wird zu einem entscheidenden Faktor.

Im Wettstreit um die zukünftige Regierungsführung ist Paulette Lenert offensichtlich zum sprichwörtlichen Hund im Kegelspiel geraten. Jedenfalls ist Luxemburgs populärste Politikerin Zentrum einer Kampagne, die ihr alle möglichen Verfehlungen und Schwachstellen des nationalen Gesundheitssystems persönlich anlastet. Die CSV wittert gar „Sozialismus“ in der Gesundheitspolitik. Gibt vor, das medizinische Angebot zu „privatisieren“. Folglich ein besseres Angebot für Gutbetuchte als für normal Versicherte schaffen zu wollen.

Auch bei den Blauen und Grünen mehren sich die Picken gegen die „Kollegin“ von der LSAP. Wobei keine Partei das Kernproblem der nationalen Gesundheitspolitik anspricht: den absoluten Mangel an „luxemburgischen“ Ärzten wie Pflegepersonal. Ohne zusätzliche Arzt- oder Pflege-Importe könnte unsere Gesundheitsversorgung weder sozial noch liberal funktionieren. Dagegen helfen keine Parteiparolen.

Paulette Lenert stört, weil sie keine typische, machtversessene Politikerin ist. Ihre Popularität stieg während der Pandemie zu Höchstwerten, weil sie sich in schwierigen Zeiten sichtlich abmühte, sowie eine echte Empathie für ihre Mitmenschen zeigte. Ob diese menschlichen Qualitäten genügen, um gegenüber Alpha-Tieren wie Bettel und Frieden zu bestehen, wird die Wahl zeigen.

Bettel, Frieden und Tanson kandidieren alle im Bezirk Zentrum. Was einen direkten Vergleich erlauben wird. Lenert kandidiert im kleinsten Bezirk, dem Osten. Wird damit wegen einer geringeren Zahl an Wählern automatisch weniger persönliche Stimmen einheimsen können als Bettel oder Frieden im Zentrum.

Jedenfalls überschattet die Rivalität der „Spitzenkandidaten“ den eigentlich wichtigeren Wettstreit der Ideen. Die Wähler kennen die Anwärter für das höchste Regierungsamt. Aber noch immer nicht die politischen Programme der Parteien, die vorgeben, das Land besser regieren zu wollen.

Kandidaten ohne Programm

Außer „Fokus“, dem Wahlverein des geschassten CSV-Präsidenten Frank Engel, hat noch keine Partei ein schriftliches Programm vorgelegt. Die vielen Broschüren, die zurzeit unseren Briefkasten überfluten, enthalten hauptsächlich farbige Porträts der amtierenden Politiker, begleitet von dürren politischen Aussagen. Die sich in ihrer Dürftigkeit kaum voneinander unterscheiden. Alle Parteien sind für „Nachhaltigkeit“, versprechen „Klimaneutralität“ in ferner Zukunft. Dazu „eine großzügigere Sozialpolitik“, einen „schnelleren sozialen Wohnungsbau“ mit „mehr billigen Mietwohnungen“. Das „Wie“ wird ausgespart. Alles mit „weniger Steuern“ für den undefinierten Mittelstand. Dennoch mehr Ausgaben für Soziales, Kultur und Sport.

Selbst die Propaganda für die kommunalen Wahlen ist durchtränkt mit solchen Allgemeinplätzen ohne reale Aussagekraft. Etwa wenn der Bürgermeister-Aspirant der hauptstädtischen CSV „Dat Bescht“ in genau 31 Zeilen verspricht, dafür aber in drei Sprachen.

Vielleicht erwartet der umworbene Bürger nicht mehr Inhalte. Die Begeisterung für die nationale wie für die kommunale Politik hält sich in engen Grenzen. Bei Letzteren haben sich 80 Prozent der wahlberechtigten Ausländer nicht einmal in die Wähler-Listen eintragen lassen. Obwohl Parteien wie Gemeinden massiv dafür warben.

Vielen Menschen genügt ein diffuses politisches Zugehörigkeitsgefühl. Man ist für „Paulette“, „Xav“, „Luc“ und Co, weil man sich irgendwie in einzelnen Vertretern der Parteien-Familien wiedererkennt. Deren ideologische Konturen umso verschwommener werden, je mehr linke wie rechte Kanten verschwanden. Und je mehr der „Politik-Sprech“ im Mief der „politischen Korrektheit“ versank. Mit dem obligaten Gendern der „Bürgerinnen und Bürger“, „Wählerinnen und Wähler“, „Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten“. Nicht zu vergessen die „nachhaltige Nachhaltigkeit“, selbstverständlich sozial, ethisch und gerecht.

„Am Frack an a Maansgréisst“

Was erklärt, weshalb die „Leuchtfiguren“ der Parteien allein durch ihre Existenz die Aktualität dominieren. Verfolgt man in den Medien oder im Internet die Aktivitäten der Politik-Spitzen, so drückt deren politisches Engagement sich vornehmlich durch den Besuch sportlicher Evenements aus. An der Teilnahme von Charity-Runs oder Straßen-Verkäufen. Der Politiker muss seine Liebe zum Fahrrad, zum Joggen, ja selbst zu „American Football“ zeigen können. Er darf weder Wein- noch Grillfeste auslassen. Die Spaßgesellschaft muss sich in ihren Spitzenleuten wiedererkennen. Ob Zeit zum Nachdenken bleibt, scheint niemanden zu interessieren.

In diesem unideologischen Geschäft ist Xavier Bettel unschlagbar. Er hat eine Präsenz wie kein Zweiter. Erscheint immer gut gelaunt, einen „Joke“ auf der Lippe. Wer noch kein Selfie mit dem Premier hatte, ist selbst schuld.

Der zu früh verstorbene Camille Gira stellte die Füchse unter Naturschutz. Sie dürfen nicht mehr gejagt werden. Fallen nur noch Autos zum Opfer. Wie die Igel. Doch Füchse sind bessere Überlebenskünstler als Igel. Wird Xavier Bettel zum neuen Renert?: „Sief Wollef oder Schof. E gudde Fuuss ass béides, als echte Philosoph.“


Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
Der Autor ist ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter Foto: Editpress/Didier Sylvestre
max.l
19. Mai 2023 - 8.45

gudden Artikel- ma ët gët och nach den Houës, dee wär nët onbedengt schnell awer dee leeft am Zick-Zack a brëngt doduerch säi Rival an d'Laberenten, do kann de Fouss esou schlau së wéi hee wëll, awer.. an den Igel huet e pour kräfteg Picken um Reck a kann doduerch, deem, deen hien upëckt kräfteg wéih doën.. ët gii meestens ee puer Méiglegkeeten ze glänzen, mee d'Resultat ass wéi Ëmmer -Null.. an de Wiëler fällt Ëmmer drop eran.. do ass d'Frô? fiirwaat! ëch lossen dës Frô mol op, doriwwer nodenken an da réicht sëch entscheeden WEEN hië wöll wiëlen..

Grober J-P.
17. Mai 2023 - 19.53

Raten sie mal wer uns bisher als einzige mit einem "sogenannten" Programm beehrt hat, die einzige wahre Reformpartei! Letzte Woche im Briefkasten. Von den anderen Parteien nur nichtssagende Gesichter.