InterviewPhilippe Ernzer über Stürme, Warnungen und das Menschliche bei der Meteorologie 

Interview / Philippe Ernzer über Stürme, Warnungen und das Menschliche bei der Meteorologie 
Sichtlich zufrieden: Philippe Ernzer in seinem neuen Büro in Differdingen Foto: Editpress/Alain Rischard

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Mit Météo Boulaide hat sich Philippe Ernzer in die Herzen der Menschen in Luxemburg hinein prognostiziert. Vor allem, wenn Unwetter drohen, schaut das Land bei Ernzer vorbei. Umso mehr freut es uns beim Tageblatt, unsere Wetterseite täglich frisch von Météo Boulaide geliefert zu bekommen – Wetter aus Luxemburg für Luxemburg.

Viele kennen Philippe Ernzer vor allem von Facebook. Dort informiert der junge Mann aus Bauschleiden seit Jahren präzise über das Wetter in Luxemburg. Ab heute kommen auch die Leserinnen und Leser des Tageblatt täglich in den Genuss der Wettervorhersagen und -erklärungen von Météo Boulaide, jenem Markennamen, mit dem Ernzer den Menschen in Luxemburg zum Begriff wurde. Zum Auftakt der Zusammenarbeit von Météo Boulaide und dem Tageblatt ein Begrüßungsgespräch. Über Lieblingswetter, wie alles begann, Skepsis gegenüber staatlichen Vorhersagen und warum Wetter mittlerweile politisch geworden ist. Wir treffen Philippe Ernzer und seinen Geschäftspartner Criss Steichen in ihren neuen Büros im 1535° Creative Hub in Differdingen. Nach 13 Jahren Meteorologie aus dem Kinderzimmer. Wir sind die ersten Gäste. Und die Hausherren mächtig stolz auf den nächsten Schritt für ihr Unternehmen ClearSky Solutions.

Tageblatt: Sie sind am meisten im Gespräch, wenn es mal wieder so richtig stürmt, und wohl Luxemburgs bekanntester Wetterexperte. Wie kamen Sie zu Ihrer Leidenschaft, die Sie inzwischen zu Ihrem Beruf gemacht haben?

Philippe Ernzer: Angefangen hat alles um 2009 herum, damals noch mit E-Mails, die ich an meine Familie sendete. Zuvor hatte ich bereits meine erste Wetterstation bekommen. Mit einer zweiten Station, einer mobilen, bin ich bei aufziehenden Gewittern immer raus aufs Feld gerannt, um bessere Daten sammeln zu können. Die Nachbarn wussten recht bald, dass es an der Zeit ist, die Wäsche reinzuholen, wenn der kleine Philippe mit seinem komischen Gerät die Straße raufrennt.

Météo Boulaide und Tageblatt: Neue Partnerschaft

Der Wetterdienst Météo Boulaide ist in den vergangenen Jahren zur Referenz in Luxemburg geworden. Zuverlässige Prognosen und verständliche Erklärungen zeichnen Météo Boulaide aus. Damit steht die Marke für die gleichen Eigenschaften wie das Tageblatt und so war die Zusammenarbeit für unsere Zeitung ein logischer Schritt. Als Tageszeitung, die in Luxemburg produziert und gedruckt wird, ist es uns ein besonderes Anliegen, mit luxemburgischen Anbietern zusammenzuarbeiten und ihnen dabei zu helfen, weiterzuwachsen. „Genau darauf haben wir hingearbeitet: unsere Dienste einem Medium anbieten zu können“, sagt Philippe Ernzer. „Die Zusammenarbeit mit dem Tageblatt ist für uns eine einmalige Möglichkeit, unser Unternehmen weiterzuentwickeln“, fügt Ernzers Geschäftspartner Criss Steichen an. Das Tageblatt freut sich darauf, ClearSky Solutions und die Marke Météo Boulaide auf den nächsten Etappen begleiten zu können.

Bekannt wurden Sie aber vor allem durch Ihre Präsenz auf Facebook.

Genau, 2010 gründete ich Météo Boulaide auf Facebook. Da kamen schnell die Freunde der Familie, die Freunde und die Freunde der Freunde hinzu. Geplant war das nicht. Eigentlich wollte ich immer nur sagen, wie das Wetter wird. 13 Jahre habe ich das Wetter dann von meinem Kinderzimmer aus vorhergesagt. Umso mehr freue ich mich jetzt auf unser erstes Büro hier in Differdingen im 1535° – und natürlich auf die Zusammenarbeit mit dem Tageblatt!

Wie ging es dann weiter?

2014 suchte ein schweres Gewitter die „Foire agricole“ in Ettelbrück heim. An dem Tag war Météo Boulaide der einzige Wetterdienst, der davor gewarnt hatte. Vom Staat gab es damals kaum Informationen.

Wir wollen auf den Ernstfall vorbereitet sein – und zeigen, dass es in Luxemburg möglich ist, präzise und lokalisiert vor großen Ereignissen zu warnen

Das hat Ihnen weitergeholfen?

Sehr, dann ging es richtig los. Ich bekam erstmals Medienaufmerksamkeit und habe mir gedacht: Okay, wenn es das ist, was du für immer machen willst, musst du noch eine Schippe drauflegen und professioneller werden. Alles geschah „learning by doing“. Ich machte die Grafiken selbst und programmierte meine eigene Internetseite. Darauf bin ich immer noch stolz. Vor allem, weil mir in der Schule oft vermittelt wurde, ich würde eh nichts reißen. Ich wollte meine Vision definitiv verwirklichen – das war nur machbar mit einer eigenen Firma und einem eigenen Büro. Also gründeten Criss Steichen und ich Ende 2022 gemeinsam ClearSky Solutions. Und jetzt empfangen wir euch hier in unserem ersten Büro.

Die Tageblatt-Chefredaktion zu Besuch bei ClearSky Solutions: Vorne sitzt Criss Steichen, Geschäftspartner von Philippe Ernzer, der den Green Screen vorführt
Die Tageblatt-Chefredaktion zu Besuch bei ClearSky Solutions: Vorne sitzt Criss Steichen, Geschäftspartner von Philippe Ernzer, der den Green Screen vorführt Foto: Editpress/Alain Rischard

Muss man ein bisschen anders ticken als die meisten, um das alles durchzuziehen?

Ich hatte immer Interessen, die andere Kinder nicht so hatten. Ich habe mich für alles interessiert, was sich gedreht hat. Ich saß zum Beispiel ganze Waschgänge lang vor der Waschmaschine und habe der Trommel beim Drehen zugeschaut. Später las ich alles, was ich in die Finger bekam, über die Planeten. Auf meinem ersten Computer tippte ich ganze Kapitel aus „Was ist was“-Büchern ab. Andere haben draußen gespielt, das habe ich auch ab und zu gemacht, hatte aber immer im Hinterkopf, etwas mit dem Computer anzustellen, etwas zu lernen. Von der Astronomie aus richtete sich mein Blick irgendwann auf die Erde. Ich schaute mir Satellitenbilder an, sah die Stürme und wollte verstehen, wie es dazu kommt. Also begann ich, Texte über Stürme abzutippen – und Dokumentationen auf Discovery Channel zu schauen. Ich wollte – ich war ja noch ein Kind – einfach alles über Stürme wissen. Mein großes Vorbild damals waren die USA.

Die Nachbarn wussten recht bald, dass es an der Zeit ist, die Wäsche reinzuholen, wenn der kleine Philippe mit seinem komischen Gerät die Straße raufrennt

Warum die USA?

Ich war und bin weiterhin Fan von Reed Timmer, einem Storm Chaser, der mit einem selbst gebauten, gepanzerten Auto in Tornados reinfährt. Um Daten und Erkenntnisse zu sammeln, damit in Zukunft weniger Menschen zu Schaden kommen. Das hat mich fasziniert. Das wollte ich auch für Luxemburg – ein Management der Unwetterwarnungen, wie es die Amerikaner haben, und das damit verbundene gesteigerte Allgemeinwissen über Meteorologie auch bei Laien. Verschiedene Wetterphänomene wurden hier im Land nicht richtig behandelt – bis ich selbst damit angefangen habe. Seitdem versuche ich den Leuten nahezubringen, dass es auch in Luxemburg extreme Wetterphänomene wie Tornados geben kann. Am Anfang wurde ich schnell als Panikmacher verschrien. 

Bis zur „Foire agricole“ 2014 …

Ja, es gab jedoch viele ähnliche Situationen, ich kann sie gar nicht alle aufzählen, aber an die Überschwemmungen im Juli 2021 und den Tornado im August 2019 kann sich jeder erinnern. Speziell war auch das Rock-A-Field-Wochenende 2015. Da hätte es uns schlimm erwischen können. Damals sagte ich, es bestehe die Möglichkeit von starken Gewittern mit, als Worst Case, fünf Zentimeter großen Hagelkörnern. Im Endeffekt ist das nördlich knapp an uns vorbeigezogen. In der Meteorologie ist eine solche Distanz nichts.

Nochmal Glück gehabt?

Ja, trotzdem war ich wieder der Panikmacher. Im Radio machte man sich sogar lustig über mich. Das ärgert mich heute noch manchmal – macht mir aber auch weiterhin deutlich, wie unbewusst sich viele sind, was Wetter anrichten kann, auch in unserem kleinen Luxemburg. Man kann nie ganz genau vorhersagen, was kommt – aber man kann es viel präziser machen, als es hierzulande gehandhabt wird. Ich beweise das seit Jahren. Bei den Überschwemmungen war das besonders markant. Da hatte ich drei, vier Tage davor gewarnt, dass Luxemburg sicher in einem Gefahren-Korridor liegt, in dem es zu schlimmen Unwettern kommen wird. Meteolux warnte damals erst sehr kurz vor den Unwettern und in meinen Augen viel zu zurückhaltend und der Situation unangemessen.

Wie geht es weiter bei Météo Boulaide und ClearSky Solutions?

Es bleibt auf jeden Fall spannend! Wir haben ein neues Warnsystem programmiert, das sehr lokale Vorhersagen treffen kann. Warum sollte etwas, das in den USA funktioniert, hier unmöglich sein? Skywatch heißt unser neues Baby. Wir wollen auf den Ernstfall vorbereitet sein – und zeigen, dass es in Luxemburg möglich ist, präzise und lokalisiert vor großen Ereignissen zu warnen. Man ist nicht machtlos.

Wegen des Klimawandels und der Diskussionen darüber scheint sogar Wetter inzwischen ein politisches Thema zu sein. Wie gehen Sie damit um? Werden Sie angefeindet?

Wir bekommen immer wieder Anfeindungen und Drohungen. Die da oben würden mir vorschreiben, was ich vorhersage, heißt es dann gerne. Das hat seit Corona zugenommen. Du musst nur schreiben, dass es kommende Woche wärmer wird, und schon kommen die ersten Kommentare. Verschiedene Leute kennen den Unterschied zwischen Klima und Wetter nicht. Oder wollen ihn nicht kennen. Den Menschen Wissenschaft näherzubringen, ist schwierig geworden.

Philippe Ernzer: „Der menschliche Input macht den Unterschied“
Philippe Ernzer: „Der menschliche Input macht den Unterschied“ Foto: Editpress/Julien Garroy

Hat man als Meteorologe ein Lieblingswetter?

Ich mag schwierige Prognosen. Selbstverständlich will ich nicht, dass Leute zu Schaden kommen, aber Gewitter faszinieren mich am meisten. Aus der Sicht von einem, der eine sehr komplizierte Wetterlage anhand aller möglichen Parameter voraussagen will, ist das die Herausforderung: so präzise wie möglich gewesen zu sein. Also allgemein: Wir mögen schönes sonniges Wetter, aber für unser Geschäft – das sehen wir auch an den Klicks auf unserer Internetseite – ist es immer am besten, wenn irgendwas los ist.

Schauen Sie das Wetter auf RTL?

Klar, ab und zu schaue ich mir das an. Aber ich konzentriere mich lieber auf meine eigene Meteorologie.

Sie beobachten das Wetter schon lange. Haben Sie im Laufe der vergangenen Jahre Unterschiede bemerkt?

Sogar ich, trotz meines jungen Alters, erinnere mich daran, dass in meiner Kindheit öfter viel mehr Schnee lag als heutzutage. Einen halben Meter Schnee hatten wir letztmals 2010, seitdem ging es nur noch bergab. Im Sommer gehe ich oft nicht mehr gerne vor die Tür: Ich halte die Hitze ab und zu nur noch schlecht aus. Auch alle Daten sagen, dass die Temperaturen in den vergangenen Jahren hochgegangen sind. Zu kalte Jahre gibt es nicht mehr, aber es werden immer neue Hitzerekorde aufgestellt. Das sagt eigentlich alles.

Haben Sie eigentlich Kontakt zum staatlichen Wetterdienst Meteolux?

Kontakt zu Meteolux gab es noch keinen, aber wir gehen davon aus, dass sie uns schon öfter auf dem Radar hatten. Sie sind jedoch nie auf uns zugekommen, um gemeinsam nach Lösungen für Luxemburg zu suchen. Ich bin Autodidakt, jemand aus einem kleinen Bauerndorf, der sich das alles selbst beigebracht hat. Criss und ich ziehen unser Ding durch. Wir wollen unsere Arbeit einfach richtig und gut machen, das ist uns am wichtigsten.

Wir leben in einem kleinen Land – trotzdem soll es schwierig sein, für Luxemburg genaue Prognosen zu erstellen. Warum ist das so?

Bei verschiedenen Wetterlagen gibt es große Unterschiede. Ich bin aus Bauschleiden und bereits im Nachbardorf Böwingen ist es immer merklich kälter. Sogar auf dem kleinen Raum gibt es also Unterschiede. Luxemburg hat, auf das ganze Land geschaut, viele Täler, Erhebungen und Gewässer, all das hat einen Einfluss auf die lokale Wetterlage und macht Luxemburg zu einem generell schwierigen Prognosegebiet. Es lohnt sich auf jeden Fall, das Land in mehrere Zonen zu unterteilen. Auf unserer neuen Wetterseite im Tageblatt werden die Leserinnen und Leser das sehen können. Auf unserer Karte arbeiten wir inzwischen mit acht bis zehn Symbolen für die verschiedenen Wetterlagen bzw. -ereignisse.

Was macht Ihre Prognosen so besonders, wie würden Sie für sich selbst werben?

Der menschliche Input macht den Unterschied. Das Wetter hat einen immensen Einfluss auf das Alltagsleben der Menschen und kann auch große Gefahren mit sich bringen. Demnach ist es wichtig, dass zu den ganzen Algorithmen der menschliche Aspekt dazukommt. So bekamen und bekommen meine Prognosen ihren Charakter. Ich habe inzwischen eine eigene Auffassung der Modelle. Irgendwann weißt du, wie sie ticken, sie sind irgendwie ein bisschen deine Kinder.

Was kann Meteorologie – und was kann sie noch nicht? Anders gefragt: Können Sie uns heute sagen, wie der Sommer wird?

Langzeitmodelle blicken ein halbes Jahr in die Zukunft. Wichtig ist aber, nicht zu vergessen, dass das eine Einschätzung ist und keine Prognose. Eine Prognose reicht zwei, drei Tage in die Zukunft. Alles, was darüber hinausgeht, ist wackelig, vor allem wenn es sieben Tage vorausschaut. Außer vielleicht bei verschiedenen Wetterlagen wie einem stabilen Hochdruckgebiet zum Beispiel. In einem solchen Fall lässt sich auch eine Prognose aufstellen, die problemlos länger als eine Woche stimmt. Aber das ist sehr selten. Zurzeit kann ich vom Sommer nur sagen: Wahrscheinlich wird er wieder zu warm.