AnalyseIn England fallen alle Corona-Einschränkungen – weiß Boris Johnson, was er will?

Analyse / In England fallen alle Corona-Einschränkungen – weiß Boris Johnson, was er will?
Boris Johnson kündigt den „Freiheitstag“ an: Ab Montag fallen alle Einschränkungen  Foto: AFP/Daniel Leal-Olivas

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Politische Führung, sagt der Premierminister des Vereinigten Königreiches, gleiche „der Hefe, welche die Teigmatratze hebt“. Das Zitat entstammt einer Rede vom Donnerstag, mit der Boris Johnson sein Ziel der Anhebung („level up“) benachteiligter Regionen des Landes zu erklären versuchte. Geäußert hat sich der konservative Regierungschef dieser Tage auch zum Rassismus gegen englische Fußballspieler („scheußlich“); zu linksradikalen Kommunalpolitikern der 1980er Jahre („verrückt“); zur Forderung nach einer Steuer auf Zucker und Salz („nicht attraktiv“), um der Pandemie von Fettsucht im Land zu begegnen.

Von der anderen Pandemie ist in Johnsons Verlautbarungen kaum die Rede. Dabei starren das Land selbst und der Rest Europas gebannt auf kommenden Montag: An diesem Tag sollen im Kampf gegen die hochinfektiöse Delta-Variante des Sars-CoV-2-Virus in England, für dessen Gesundheitspolitik die Zentralregierung zuständig ist, alle staatlichen Beschränkungen fallen. Abschied zu nehmen, heißt es von der Maskenpflicht in Geschäften, Bussen und Bahnen; von der Abstandsregel in Pubs, Restaurants, Theatern und Kinos; von der staatlichen Aufforderung, nach Möglichkeit von zu Hause aus zu arbeiten.

Viele Infektionen, (noch) wenige Todesfälle

Oder doch nicht ganz? Zu Monatsbeginn besangen Johnson und Gesundheitsressortchef Sajid Javid stets die große Freiheit, kürten den 19. Juli zum „Freiheitstag“, nannten die jüngsten Lockerungsschritte „unumkehrbar“. Diese Woche herrschte ein nüchternerer Ton. So sprach der Premierminister am Montag von „persönlicher Verantwortung“ und dem ersehnten „Ende des Regierungsdiktats“. Er mahnte aber auch wortreich zur Besonnenheit: „Vorsicht ist absolut unerlässlich, wir sind alle verantwortlich.“ Die Pandemie sei nicht vorbei, dem Land stünden „schwierige Tage und Wochen“ bevor.

Das kann man wohl sagen. In der Woche bis Donnerstag ging die Zahl der täglich gemeldeten positiven Covidtests um fast ein Drittel (32,6 Prozent) nach oben, lag zuletzt bei 48.553 Neuinfektionen und damit bei einer Inzidenz von 337 pro 100.000 Einwohner. 47 Prozent mehr Patienten mussten wegen einer Covid-Erkrankung ins Spital gebracht werden, die Zahl der Toten lag um 48 Prozent höher als in der Vorwoche, durchschnittlich wurden 38 Verstorbene pro Tag registriert. Vor allem unter Kindern und jungen Leuten greift das Virus um sich: Das Durchschnittsalter der Erkrankten lag zuletzt bei 25 Jahren.

Wir sind alle verantwortlich

Boris Johnson

Von einer Überlastung der Intensivstationen kann bisher keine Rede sein, die Todesstatistik ist weit entfernt von jenen Januartagen, als bis zu 1.500 Menschen täglich ihrer Covid-Erkrankung erlagen. Erkennbar hat das überaus erfolgreiche Programm des Nationalen Gesundheitssystems NHS die Verbindung zwischen Ansteckung und tödlichem Verlauf stark geschwächt. Bis einschließlich Mittwoch haben 87,5 Prozent der Erwachsenen auf der Insel eine Dosis AstraZeneca, Moderna oder Pfizer/Biontech erhalten; 67 Prozent verfügen über die vollständige Immunisierung.

Dennoch halten viele Wissenschaftsberater der Regierung die jüngsten Zahlen für alarmierend genug, warnen vor der unbeirrten Öffnungspolitik. Mike Tildesley von der Uni Warwick beurteilt das Vorgehen als „verwirrend“, vor allem in Bezug auf das Tragen von Mund-Nasenschutz. Es wäre „so viel leichter, wenn die Vorschrift in Kraft bleibt“, findet Peter Openshaw, Immunologe am Londoner Imperial College.

Einige behalten die Maskenpflicht bei

Bleibt sie auch, jedenfalls vielerorts. Kaum hatte Johnson alle Beschränkungen aufgehoben, meldeten sich regional und lokal Verantwortliche zu Wort. In Wales und Schottland werde die Pflicht zum Tragen einer Maske in Bussen und Bahnen weiter bestehen, teilten die Regierungschefs Mark Drakeford und Nicola Sturgeon mit. Gleiches gilt im Londoner Nahverkehr, vor allem den engen U-Bahntunneln der 9-Millionen-Einwohner-Metropole. „Ich werde unsere Bürger keinem unnötigen Risiko aussetzen“, teilte Londons Bürgermeister, Sadiq Khan, mit.

Den Politikern folgten die Geschäftsleute. Große Supermarktketten wie Tesco, Sainsbury’s und Asda fordern die Kundschaft auf, weiterhin sich selbst und andere mit einer Maske zu schützen. Auch soll die Zahl der Einkaufenden in den Filialen begrenzt bleiben. Die Billigflieger EasyJet und Ryanair pochen auf die Maskenpflicht.

Im Finanzzentrum City bleiben die Büroflure von Banken und Versicherungen verwaist. „Mindestens bis September“, so lautet die Vorgabe vieler Manager, sollen Banker und Broker nach Möglichkeit im Home-Office verharren. Auch danach kehren wenige zur Normalität zurück. So rechnet man bei der Großbank NatWest (früher Royal Bank of Scotland) damit, die Zahl der täglich im Großraumbüro Tätigen werde dauerhaft auf weniger als die Hälfte des Standes vor der Pandemie sinken.

Die sonst so streitlustige Regierung, allen voran deren Vormann, hat die Vielzahl von Vorsichtsbekundungen mit keinem Wort kommentiert. Ob Johnson das Vorgehen von Regionalregierungen und Firmen ganz gut in den Kram passt, während er selbst sich als Freiheitskämpfer präsentieren kann?

Johnson unter Druck der eigenen Fraktion

Manche Beobachter sehen den Konservativen unter starkem Druck der eigenen Fraktion. Weitere gesetzlich vorgeschriebene Einschränkungen seien mit den Unterhausabgeordneten, von denen viele ländliche, von der Pandemie kaum betroffene Wahlkreise vertreten, nicht länger zu machen. Und würde sich Johnson zur Verabschiedung von Covid-Maßnahmen auf die durchaus willige Labour-Opposition stützen, „wäre das sein Ende“, glaubt ein erfahrener Tory-Kenner.

Dabei ließe sich immerhin diskutieren über die Frage, inwieweit der Staat auch weiterhin seinen Bürgern den Umgang mit der Pandemie vorschreiben soll. Zu Monatsbeginn beantwortete der neuerdings schweigsame Johnson Kritik am Öffnungsschritt noch mit der Frage: „Wann, wenn nicht jetzt?“ Wenn Ende nächster Woche fast im ganzen Land die Sommerferien beginnen, fallen die Schulen als Infektionsherde aus. Weil, siehe oben, große Unternehmen ebenso wie der Beamtenapparat im Regierungsviertel Whitehall bis auf Weiteres am weitgehenden Home-Office festhalten, zudem Sommertouristen weitgehend ausbleiben, sind die öffentlichen Verkehrsmittel selten überfüllt. Zudem begünstigt der Sommer die Verlagerung vieler Treffen ins Freie.

Gesundheitsminister Javid weist auf den ungeheuren Stau von Facharzt-Terminen hin, die in den vergangenen 18 Monaten der Pandemie zum Opfer fielen. Auch hätten die dauerhaften Einschränkungen „schlimme Auswirkungen“ auf die mentale Verfassung vieler Briten gehabt. Der endgültige Abschied vom Corona-Lockdown werde die Bevölkerung „nicht nur freier, sondern auch gesünder“ machen.

Das Argument wird von vielen Ärzten geteilt, erfährt in den britischen Medien aber wenig Widerhall. In der Öffentlichkeit agieren prominente Ärzte und Wissenschaftler eher als Kassandras, oft gespeist aus ihren traumatischen Erfahrungen in Krankenhäusern während der ersten und zweiten Welle.

Diese Fronterfahrung hat auch der gebürtige Wiener Helmut Roniger gemacht. Im Winter unterbrach der erfahrene Internist und Komplementärmediziner seine Arbeit mit schwerkranken chronischen Schmerzpatienten, um auf der Intensivstation des Zentral-Londoner Krankenhauses UCLH auszuhelfen. Jetzt aber, glaubt der 59-Jährige, komme die Öffnung zur rechten Zeit.

Verheerende Folgen der wiederkehrenden Lockdowns

Nüchtern zählt Roniger auf, was neue Statistiken nahelegen, teilweise auch schon belegen: die wiederkehrenden Lockdowns zeitigen verheerende gesundheitliche und gesellschaftliche Folgen. Der Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE) zufolge lag die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle im vergangenen Jahr um 20 Prozent höher als 2019. Die Zahl kleinerer, nicht unbedingt lebensnotwendiger Operationen ging um 4,6 Millionen zurück, der Trend hält auch in diesem Jahr an. Die Wartezeit für Routine-Eingriffe wie Mandel- oder Gelenkoperationen ist in die Höhe geschnellt, auf eine künstliche Hüfte warten stark schmerzgeplagte Patienten bis zu zwei Jahre. Onkologen erwarten eine Welle von Krebserkrankungen im fortgeschrittenen Stadium, weil viele Patienten dringend notwendige Vorsorgeuntersuchungen aus Angst vor Covid-19 absagten.

Der Premierminister „sagt sehr wenig und agiert, als sei jemand anders verantwortlich“, analysiert das eigentlich Johnson-treue Magazin Spectator – wo Boris Johnson einmal Chefredakteur war – „die Regierung vermeidet eine Debatte und wälzt die Schmutzarbeit auf den Privatsektor ab“.

HTK
19. Juli 2021 - 14.58

Jetzt bekommen die Engländer die Quittung. Wer so eine Lachnummer zum Premier wählt hat es sich selbst zuzuschreiben.Boris weiß nicht nur nicht was er will,er weiß noch nicht einmal was er tut. Er hat Corona überlebt,dann können das auch seine Untertanen.

Observer
19. Juli 2021 - 14.00

Und der doppelt geimpfte Gesundheitsminister infiziert sich mit Corona.Boris muss in Quarantäne.Die grenzenlos dumme Menschheit hat nichts dazu gelernt.