In Wallonien herrscht blankes Entsetzen. Die „heiße Flüssigphase“ im Stahlbecken von Liège wird abgeschaltet. Mit anderen Worten: Die beiden Hochöfen werden stillgelegt. Betroffen sind direkt 1.000 Familien, indirekt um die 3.000, heißt es seitens der Gewerkschaft FTGB.
Die Stilllegung ist eine wirtschaftliche Katastrophe auch für die Region Liège. Es gibt nichts, womit man die arbeitslosen Stahlarbeiter auffangen könnte. Die Region galt und gilt als strukturschwach in Wallonien. Das aber ist typisch für Stahl- und Kohleregionen. Die Rohstoff- und Schwerindustrie ist immer noch dermaßen personal-intensiv, dass sich mit Ausnahme der direkten Zulieferindustrie selten andere Industrien ansiedeln. Brechen Stahl und Kohle weg, dann entsteht eine industrielle Wüste. Das Ruhrgebiet hat das während der Stahlkrise in den 70er Jahren erlebt. In Luxemburg gibt es heute noch eine Solidaritätssteuer, die damals zur Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen gedacht war. Luxemburg entwickelte sich zum achtgrößten Finanzplatz der Welt nach der Stahlkrise, ersetzte eine Monokultur durch eine andere, hatte insgesamt Glück. Aber Liège? Da ist sonst nichts.
Nicht wettbewerbsfähig
In Luxemburg sind 450 Stahlwerker vom Schicksal ihrer Werke in Rodange und in Schifflange betroffen. Bis März kommenden Jahres wird dort die Produktion eingestellt. Ob sie jemals wieder aufgenommen werden wird, ist mehr als zweifelhaft. Beide Werke sind im europäischen Konkurrenzkampf nicht wettbewerbsfähig.
In Lothringen geht es um die Hochöfen in Florange und Hayange. Sie schlafen und warten offiziell darauf, irgendwann wieder zu Leben erweckt zu werden. 600 Arbeitsplätze sind hier direkt betroffen. In Eisenhüttenstadt ist der kleinere Hochofen abgeschaltet worden. „Der wird immer abgeschaltet, sobald etwas ist“, sagt ein Sprecher des Unternehmens.
Aditya Mittal aus der Schusslinie genommen?
Quer durch Europa also gibt es Betroffenheit. Quer durch Europa sind die Langstahlprodukte betroffen. Es hat im Frühjahr eine seltsame Personalentscheidung bei ArcelorMittal gegeben. Der Finanzchef und Sohn des Firmengründers, Aditya Mittal, hat seine Verantwortung für Langstahl an Generaldirektor Michel Wurth abgegeben. Aditya Mittal hat stattdessen von Michel Wurth den Flachstahl übernommen. Ist da jemand im Vorfeld unangenehmer Entscheidungen aus der Schusslinie genommen worden?
ArcelorMittal ist sichtlich dabei, den Konzern zu verschlanken und ihm die Kostenführerschaft auch im Langstahl wieder zurück zu geben. Überall, wo derzeit Werke geschlossen werden, steht im Hintergrund die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit. Und es fällt auf, dass es fast überall um Werke geht, die älteren Datums sind und in die hohe Summen investiert werden müssten, um sie wettbewerbsfähig zu machen. Andererseits gibt es Doppelungen im Konzern. Schifflange zum Beispiel ist das getreue Gegenstück zu Duisburg. Und Duisburg ist weitaus moderner.
Europa ist kein Wachstumsland mehr
Der Konzern argumentiert mit wirtschaftlichen Gründen. Generaldirektor Michel Wurth: „Wir liegen immer noch gut 25 Prozent unter der Nachfrage von vor der Krise. Wir haben in Europa deutliche Überkapazitäten.“ Was Wurth in diesem Zusammenhang nicht sagt, aber zum, Stahl-Allgemeinwissen gehört: Europa ist für Stahl kein Wachstumsland mehr.
ArcelorMittal ist weiter darauf aus, sich nur noch auf Stahl zu konzentruieren und den Konzern von allem zu befreien, was nicht dazu gehört. Das sagte Roman Becica, ein Mitglied des europäischen Betriebsrats von ArcelorMittal, gegenüber dem Finanzportal Finanzen.de. Die Maßnahmen könnte 15% der europäischen Belegschaft betreffen. Die geplante Konzernstrategie sehe unter anderem vor, dass die metallurgischen Aktivitäten im Unternehmen bleiben und alles, was damit nichts zu tun hat, ausgelagert wird, sagte Becica. Dies habe das Management Arbeitnehmervertretern bei einer Betriebsratssitzung gesagt. Wenn der Strategieplan genehmigt wird, soll er 2012 umgesetzt werden.
Besser vorbereitet als 2009
Die Finanzmärkte beurteilen die ArcelorMittal mittlerweile wieder positiv. Es sei ungerechtfertigt, dass die Aktie nur mit dem 0,58fachen des materiellen Buchwertes beurteilt werde. ArcelorMittal sei heutzutage besser vorbereitet auf eine Rezession als 2009. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis läge um die 7,3 also mehr als günstig. Und selbst in einer Rezession wie 2009 würde das Unternehmen heutzutage immer noch acht Milliarden US Dollar operativen Gewinn machen, zitieren die Analysten der französischen Bank Société Générale den Finanzchef.
So sieht also die Beurteilung eines Unternehmens aus: Die Arbeiter kämpfen um ihre Jobs. Die Finanzwelt bewundert die Leistung des Finanzchefs, der das Unternehmen für eine Rezession fit macht.
Helmut Wyrwich/Tageblatt.lu
De Maart

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