Donnerstag13. November 2025

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Über Gott und die Welt

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Seit 2005 ist Prof. Dr. Rolf Tarrach Rektor der Universität Luxemburg. Wir unterhielten uns mit dem Wissenschaftler, der Ende dieses Jahres in Pension geht, buchstäblich über Gott und die Welt.

Tageblatt: Professor Dr. Tarrach, bei Ihrer Konferenz anlässlich des zehnten Geburtstages der Universität haben Sie bereut, dass keine Politiker anwesend waren, um zu sehen, dass die Grundlagenforschung auch zu was führt.

Kurzbiografie

 Geboren in Valencia, Spanien, 1948

• Verheiratet, zwei Kinder

 Doktor der Physik, Universität von Barcelona (1973)

 Praktikum am CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) Genf, (1974-1976)

 Professor für theoretische Physik an der Universität von Valencia (1983) und Barcelona (1986-)

 Rektor der Universität Luxemburg seit 2005

Rolf Tarrach: „Natürlich. Nehmen Sie z.B. das http-Protokoll von Tim Berners-Lee, der im CERN arbeitete. Das ist ein gutes Beispiel. Im CERN wird nur Grundlagenforschung betrieben, und das Web ist die Folge davon.“

Was ist die Reaktion der Politiker, wenn Sie mit ihnen über Grundlagenforschung reden?

„Sie hören zu, aber Sie verstehen es nicht. Der Druck auf uns, mehr und mehr ’nützlich‘ zu sein, wird immer größer. Das ist ein falscher Weg. ‚Wir haben Probleme, also löst Ihr sie‘, sagen die Politiker. Zum großen Teil ist die Uni dafür nicht gemacht. Aber das ist nicht nur in Luxemburg so, sondern überall.“

Warum sind Sie Forscher geworden?

„Zum einen war ich sehr gut in Mathematik. Ich hatte in der Schule sehr gute Lehrer in Physik und Mathematik. Zum anderen ist es eine Reaktion gegen meinen Vater. Er war ein Unternehmer. Er exportierte Apfelsinen. Er kaufte Orangen im August, da tragen die Orangenbäume keine Früchte, es ist ein ‚Future‘-Markt. Sie kaufen ein Produkt, das es nicht gibt. Ich erinnere mich noch an das Bild meines Vaters zu Weihnachten vor dem Thermometer. Wenn die Temperatur zu tief sank, wurde er nervös, und ich wusste, er würde Geld verlieren. Mir gefiel nicht, dass mein Glück von einem Zustand – der Temperatur – abhängt, den ich nicht kontrollieren konnten. Ich wollte etwas tun, wo ich mehr Kontrolle habe.“

Sie sind während der Franco-Diktatur in Spanien aufgewachsen, wo die Kontrolle ja groß war.

„Das war ein sehr wichtiger Faktor. Der Kampf gegen die Diktatur hat uns sehr viel Kraft gegeben.“

Was meinen Sie mit „Kampf gegen die Diktatur“?

„Wir Studenten wollten alle Freiheit, wie Studenten eben so sind. Es gab in Spanien die kommunistischen Priester, die sehr aktiv waren. Die Kommunistische Partei war die einzige, die organisiert war, natürlich verboten. Sonntags organisierte sie Unterricht für die Roma, und da habe ich zwei Jahre als Student den Zigeunern Mathematik, Spanisch und ein bisschen Englisch beigebracht.“

Waren Sie in der Kommunistischen Partei aktiv?

„Nein, ich war in keiner Partei aktiv, weil ich immer meine eigenen Gedanken hatte.“

Mit dem spanischen Anarchismus haben Sie nicht geliebäugelt?

„Gute Frage, denn Katalonien und vor allem Barcelona waren sehr anarchistisch. Aber der Anarchismus hat sich nach dem Krieg nicht mehr erholt. Es waren die Kommunisten und vor allem die Gewerkschaften, die in der Zeit organisiert gegen Franco was unternehmen konnten.“

Als Sie mal zu Gast im Tageblatt waren, haben Sie davon gesprochen, wie der Nachfolger Francos, Luis Carrero Blanco, einem Attentat zum Opfer fiel.

„Ja, das war der 20. Dezember 1973.“

Sie sagten, Gewalt in der Politik könne gerechtfertigt sein. Stehen Sie noch dazu?

„Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Fünf Arbeiter arbeiten auf Gleisen und ein Zug nähert sich. Sie stehen auf einer Brücke, haben eine Person vor sich; wenn Sie diese Person hinunterstoßen, fällt diese auf die Gleise, der Zug bremst, tötet diese Person, aber Sie retten damit die fünf Arbeiter. Wenn Sie nichts tun, dann tötet der Zug die fünf Arbeiter. Frage: Dürfen wir einen Menschen töten, um fünf zu retten? Ich glaube, ja. Für mich sind alle Leben gleich wichtig, also sind fünf Leben mehr wert als eins.“

Da spricht der Mathematiker …

„Genau. Die Menschen sind dagegen wegen der Religion. Die Religion sagt immer ‚du darfst nicht töten‘. Sie sagt nie, du sollst retten. Sie sagt natürlich, du sollst den Menschen helfen usw. Retten aber überlässt die Religion dem guten Herrgott, wie auch das Töten. Als Carrero Blanco getötet wurde, wurde das praktisch von allen Spaniern begrüßt. Denn es bestand die Gefahr, dass es weitergehen würde mit einer Diktatur, die nach dem Krieg noch einmal 200.000 Menschen umgebracht hat.“

Stichwort Religion: Auf der besagten Konferenz sagten Sie, dass unter den Wissenschaftlern nun ein ganz kleiner Teil gläubig sei.

„In den USA z.B. sind 90 oder mehr Prozent der Menschen religiös. Nimmt man nur die Naturwissenschaftler, sind es nur um die 40 Prozent, nimmt man davon nur die Mitglieder der Academy of Science, sind es nur drei bis vier Prozent. Scheinbar gibt es da eine Korrelation, ich sage nicht Kausalität. Je mehr die Leute aktiv sind in der Forschung und je besser sie sind, desto weniger glauben sie an Gott.“

Wenn man sich mit Physik beschäftigt, stellt man sich irgendwann automatisch religiöse Fragen?

„Auf jeden Fall. Eine Sache ist die Forschung, die ich 30 Jahre lang betrieben habe. Eine andere Sache sind die philosophischen Fragen, die man sich als Forscher stellt. Das macht man mit Freunden, so nebenbei. Ich habe mit Edmond Israel drei Debatten über Gott und die Wissenschaft organisiert. Wir trafen uns regelmäßig im Hotel Royal auf einen Whisky und haben philosophiert: über Ethik, Wirtschaft, Physik, woher das Leben herkommt usw. Eines Tages schlug er vor, Debatten zu organisieren mit mir als Naturwissenschaftler und Vertretern der katholischen Kirche, des Judaismus und des Islam. Danach haben wir ein Buch herausgegeben ‚Dieu et la science’*.“

Wollten Sie von Anfang an Grundlagenforschung machen?

„Nein, das kam langsam, erst als ich mit meiner Doktorarbeit fertig war. Ich erhielt 1973 ein Stipendium, um zum CERN zu gehen. Ein Direktor von IBM in Spanien bot mir als Gehalt das Dreifache an. Ich habe abgelehnt, ich wollte die Natur verstehen.“

Sind Sie diesem Ziel näher gekommen oder verstehen Sie jetzt noch weniger?

„Nein, ich bin da schon sehr viel weiter gekommen. Natürlich, desto mehr man weiß, desto mehr Fragen stellen sich einem. Fragen, die man sich davor gar nicht stellen kann. Die Erkenntnis, dass man die richtigen Fragen stellen kann, ist ja einer der Reichtümer der Forschung. Die Ignoranz bewirkt, dass man gar nicht weiß, was man fragen soll. Das beste Produkt der Forschung – das gefällt den Politikern nicht – ist, die guten Fragen stellen zu können.“

Also verfügen Sie jetzt über einen großen Fragenkatalog?

„Oh ja, es gibt viele interessante Themen. Eine hochinteressante Debatte wäre z.B. die über den freien Willen. Sind die Entscheidungen von der Biochemie entschieden oder entscheiden wir frei. Es gibt kein wissenschaftliches Modell für den freien Willen. Demzufolge müsste man als Wissenschaftler sagen: Nein, wir entscheiden nicht frei. Die Folgen davon sind erschreckend. Es gibt Kulturen, wo man sagt, ich muss so handeln, ich bin nicht frei. Die reden nicht von der Biochemie, sondern von Gott.

Wenn wir zum Schluss kämen, wir entscheiden nicht frei, dann hätten wir ein Problem. Warum sollten wir dann ein Rechtssystem haben, das auf dem freien Willen basiert.“

Finden Sie neben all Ihren Interessen Zeit zum Lesen?

„Noch gestern sagte mir meine Frau ‚letztens liest du ja gar nicht mehr‘. Ich habe immer viel gelesen, ich bekomme auch viele Bücher geschenkt. Auf meinem Nachttisch liegen immer 20, 30 Bücher. Drei oder vier Monate hab ich nicht mehr in einem Buch gelesen.“

Welches sind Ihre Lieblingsschriftsteller?

R.T.: „Als junger Mann hat mich Thomas Mann sehr beeindruckt, ‚Der Zauberberg‘. Ein Buch mit Themen, die mich stets begleitet haben. Etwas Ähnliches passierte mir mit Kafka. Südamerikanische Literatur mag ich auch sehr: Gabriel García Márquez, Julio Cortázar. Sehr gerne lese ich Javier Marías, und dann Autoren, die ein bisschen delikat sind, wie Ayn Rand.“

Die ist ja ultraliberal.

„Ja genau, ultraliberal, aber so interessant geschrieben.“

Lesen Sie die Sachen auf Spanisch?

„Immer in der Originalsprache: Spanisch Englisch, Deutsch, Französisch, Katalanisch.“

Mit Ihrer Sekretärin reden Sie luxemburgisch.

„Ich versuche es. Mein großes Problem ist, dass ich wenig praktiziere.“

Was ist Ihre Muttersprache?

„Ich habe zwei: Spanisch und Deutsch. Mit meiner Frau spreche ich Katalanisch. Ich habe zwei Nationalitäten, die spanische und die luxemburgische.“

Bald auch noch die katalanische?

„Man hat mich gebeten, vor der katalanischen Regierung einen Vortrag über das Für und Wider der katalanischen Unabhängigkeit zu halten, aber ich weiß nicht, ob ich das tun werde. Ich habe zu viele Freunde. Oder genug Feinde. Ich möchte mich nicht zu sehr in manche Sachen einmischen. Ich bin als Berater in der Stiftung des spanischen Königs, den ich sehr gut kenne, den aktuellen und den alten.“

Letzte Frage: Wann zieht die Uni nach Belval?

„Seit ich als Rektor an der Uni begann, hat man mir jedes Jahr ein anderes Datum für den Umzug gegeben. 2011, dann 2012 usw. Ich will nicht zu viel darüber sagen, ich bin ‚en fin de carrière‘ und will als sympathischer Mensch aufhören.“